Dienstag, 10. Mai 2011

Kuhglockenblues


Es bimmelt und muht, dann Jodelstimmen, ein Chörli und leise Stimmen im Vordergrund: Im Verbindungszug von der Landebahn zum Hauptgebäude des Zürcher Flughafens sollen die urschweizerischen Klänge für die Heimkehrer ein heimatliches Ambiente und für den Neuankömmling ein erster Eindruck von Alpenromantik verbreiten. Benommen, übermüdet und leicht befremdet lasse ich mich berieseln von diesen Stimmen althergebrachter Folklore. Plötzlich spüre ich ein ganz mulmiges Gefühl, das eine Mischung aus Beklemmung, Kulturenge und Platzangst in die müden Glieder verströmt. Surreal vermischen sich Kuhglocken und Jodelchörli zwischen die Spiegel- und Glasarchitektur des Zürcher Eingangstor zum Schweizer Schoggi- und Käseland. Hilflos überlasse ich mich einer Überdosis von Symbolik, die in Richtung Gepäckrückgabe weist. Ein "Grüezi mitenand" im Zeitlupentempo an der Passkontrolle wie auch die verschlafenen Gesichter der Zöllner stimmen einen disharmonischen Heimatblues an, den ich seither noch nicht losgeworden bin.
In die sogenannte Heimat zurückkehren ist nach längerem Herumreisen in fernen Landen kein Zuckerschlecken. Im Gegenteil, an jeder Ecke warten Erinnerungen, Assoziationen und Geschichten, wo einem die eigene Vergangenheit ein- oder sogar überholt.
Nach knapp 8 Monaten wieder in der schweizerischen Stube zu landen, löst eigenartige Gefühlszustände hervor. Während die Mädchen ausgeschlafen und glücklich das Wiedersehen mit Grosseltern und Gotti feiern, schwanke ich in einer neuen, alten Welt, leicht beduselt in den frischen Kaffeeduft hinein. Sind es die schlaflosen Stunden der vergangenen Flugnacht oder die glänzend aufgezogenen Schweizer Werbeetiketten in den Flughafengängen, die Freude und Dankbarkeit mit Melancholie würzen? 
Heimkehr, Rückkehr oder Zurückfinden in jene Welt, die sich scheinbar überhaupt nicht verändert hat, wird zur ungeahnten Herausforderung. Während die Erlebnisse der zurückliegenden Monate noch nicht alle verdaut sind, bricht eine altbekannte Alltagsdynamik den Reiserhythmus, von dem wir uns nur schwer trennen können. Hier scheint alles wie eh und je, geordnet, irgendwie hervorhersehbar und kontrolliert.
Allmählich machen wir uns daran, erste Wiederintegrationsversuche zu starten, wie zum Beispiel Handys reaktivieren, Kindersitzli organisieren oder Termine ansetzen. Glücklicherweise ziehen wir auch in der Schweiz noch einige Tage umher, sodass wir uns den Gewohnheiten des Zuhause-Seins noch entziehen können. Vielleicht ist die bevorstehende Alpzeit die richtige Medizin, um den Kuhglockenblues sanft zu pflegen und die eigenen Tonarten wiederzufinden. 
Heimat scheint sowohl ein wohltuendes wie auch aufwühlendes Wort zu sein, das als zweischneidiges Schwert nationale und emotionale Geborgenheit suggeriert. Das Reisen als Gegenpol zum Hafen an vertrauten Ufern kann diese Gefühle anheizen oder zerstreuen. Je nach Verwurzelungsgrad, Identitätskrisen oder Kulturverdruss: Die Ankunft in den vermeintlich eigenen Ursprüngen bringt dem bewegten Geist Nahrung, die oft schwerverdaulich ist. Nicht umsonst werden Rückkehrer aus Entwicklungsprojekten und längeren Auslandeinsätzen sorgfältig auf die Wiederintegration vorbereitet. Wir arbeiten auch daran, um möglichst bald die Kurve auf die Alp zu kriegen. Nur so schaffen wir den Sprung von der Hongkonger Grossstadt-Neurose zum Ziegenmeckern bei Gewitterregen und Stallgeruch.

Freitag, 6. Mai 2011

Hafenpoesie

  Aus dem 30. Stock unseres Hotels beobachte ich das nächtliche Treiben des momentan drittgrössten Hafens der Welt. Zehntausende von Containern stapeln sich wie Bausteine auf dem Gelände des "Victoria Harbour" in Hongkong. Während 24 Stunden, 7 Tage in der Woche, wird hier be- und entladen. Zentimetergenau schieben die gewaltigen Hafenkräne die Tonnen hin- und her, welche den Welthandel zwischen Asien und dem Rest der Welt als ein gigantisches Legospiel erscheinen lassen. 450'000 Schiffe verkehren jährlich in diesem logistischen Wunderwerk. Dabei wird 250 Millionen Tonnen Frachtgut verladen. Die durchschnittliche Anlegezeit zum Ent- und Beladen der Containerriesen beträgt gerade mal 10 Stunden. Beim Anblick des Hafengeländes flüstert mir Lia ins Ohr: "Papa in dieser Stadt gibt es keine Häuser, nur Kisten!"
Menschen sind wenige zu sehen zwischen diesen Kistentürmen. Kranführer und Lastwagenchauffeure sitzen in ihren Führerkabinen. Fast gespenstisch schnell und ruhig werden die unheimlichen Frachtmengen verarbeitet. Nur das unaufhörliche Krangeräusch und die Motoren der Sattelschlepper bilden einen konstanten Klangteppich. Das Lichtermeer des Hafenviertels unterscheidet sich im weichen Gelbton zu den grell farbenen Lichtern der Hongkonger Skyline im Hintergrund. Der ganze Hafen befindet sich in einer einmaligen Arena von unzähligen Hochhäusern, die sich in die tiefliegenden Nachtwolken recken. Im Lichtermosaik leben 8 Millionen Einwohner auf sehr engem Raum in die Höhe gepfercht. Deswegen bildet das zerklüftete Inselgebiet ein sehr dicht besiedeltes Gebeit mit fast 7000 Einwohnern pro Quadratkilometer: Ein asiatischer "Melting Pot" der Kulturen, wo immer weniger der einst dominanten britischen Kolonialmacht zu spüren ist, dafür die Chinesen zusehends an Einfluss gewinnen. "Ein Land, zwei Systeme" war der Leitspruch der chinesischen Übernahme seit 1997. Dies ist heute noch eindrücklich wahrzunehmen beim Übertreten der Grenze nach Shenzen. Nicht nur im Hafen läuft alles reibungslos in Hongkong, auch die Metro, das öffentliche Transportwesen oder das Strassenverkehrskonzept hinterlassen einen beeindruckendes Bild. Alles ist und bleibt sauber und vor allem sicher. Sicherheit, welcher Art auch immer, ist grossgeschrieben. Auffallend viele uniformierte Ordnungshüter fühlen sich verantwortlich für dieses öffentliche Gut, das schliesslich immer wieder als ein Teil der hiesigen Lebensqualität betont wird.
Mit Blick von unserem Hochhaus ins Hafenlabyrinth, fühle ich durch die sauber polierten Fenster eine Hafenstimmung, die fast surreal wirkt. Als ob ich in einem Elfenbeinturm sitzen würde, bemerke ich kaum, wie ich in eine sanfte Hafenromantik abgleite. Es ist Mitternacht und die Geschäftigkeit geht unvermindert weiter. Was verbirgt sich in allen diesen Containern, wo fahren sie hin? Wo werden all die T-Shirts verschwitzt, die I-Phones "betoucht" und die Kinderspielzeuge verschenkt werden? Die globale Drehscheibe, die mir zu Füssen liegt, verführt nicht nur durch seine nächtliche Ästhethik. Sie inspiriert ebenso zu konkreten Geschichten, die eine virtuell vernetzte Welt physisch verbinden. Sie bildet quasi das materielle Pendant zur  Macht des Internets und strahlt eine Arbeits-Poesie aus, die an Piratengeschichten und Seemanns-Anekdoten erinnern. Während ich online über die Hongkonger Skyline in die Welt hinausblicke, erinnert die Containerlandschaft an eine Alltagsrealität, die als logistisches Zentrum des Welthandels aus den astronomischen Warenflüssen der chinesischen Produktionsmaschine entspringt. Das Klötzlispiel nimmt seinen Lauf und so lange sich die Lego-Steine nicht zu Dominosteinen oder Casino-Würfel verwandeln, werden die Wogen der Weltmeere diese Lasten weitertreiben lassen.

Montag, 2. Mai 2011

Reisegesundheit

Bekanntlich schätzt man den Wert der Gesundheit erst richtig, wenn einem die Verletzlichkeit des eigenen Körpers durch Krankheit oder Unfall und den damit verbundenen Schmerzen so richtig bewusst wird. In der Fremde kann einem dies psychisch besonders hart treffen, sehnt sich doch der Kranke nach Ruhe, Geborgenheit und vertrauten Menschen. Vielleicht sind deshalb Krankheiten in unbekanntem Umfeld unter den Reisenden besonders gefürchtet. Kommt hinzu, dass die europäischen Ärzte, insbesonders die Tropenspezialisten, ein- und oft aufdringlich vor lauernden Gefahren warnen. Sind dann die Tropenreisenden Kleinkinder, wird ein solches Unterfangen oft nur noch mit Kopfschütteln und Sorgenfalten quittiert.
Auch wir hatten zu Beginn unserer Reise gewisse Bedenken, wie die Kinder mit Klima, Essen und den überall präsenten Moskitos umgehen können. Eher vorsichtig starteteten wir ins klimatische und kulinarische Neuland mit Antimückenspray und homöopathischer Reiseapotheke.
Nach 8 Monaten unterwegs können wir auf die gesündeste Kinderzeit zurückblicken, die wir je erlebten. Allen Warnungen zum Trotz haben wir weder Magenprobleme, Fieber oder Infektionen erlebt. Abgesehen von einigen Würmern, die wir schmerzlos entfernen konnten, sind wir glücklicherweise von Krankheiten verschont geblieben. Ist dies ein Zufall oder hat sich einfach unser Vertrauen auf den intuitiven Ratgeber ausbezahlt? Schon seit Beginn unserer Reise hielten wir uns diszipliniert an 4 Grundregeln: Genügend Schlaf, einheimische Kost und Essgewohnheiten annehmen, immer genügend sauberes Wasser trinken und regelmässige, dem Klima angepasste Bewegung. Diese völlig banalen und intuitiv jedem einleuchtenden Prinzipien reichen aus, um das Immunsystem ideal auf die klimatischen und kulinarischen Herausforderungen einzustellen. So bemerkten wir sehr bald die heilende Kraft der laotischen Krautküche mit Nudelsuppe zum Z'morge oder das bhutanesische Chili-Gericht Ema Datsi gegen Kälte und Hunger. Wer Zeit hat unterwegs, muss sich weder durchimpfen lassen noch eine mit Chemie vollgestopfte Reiseapotheke mitführen. Was bei uns sowohl eine psychologische Unterstützung, wie auch für Notfälle immer zur Hand war, reduzierte sich auf die kleinen weissen "Kügeli" aus der Schweiz. Die Homöopathie kann vor allem für die Kinder zu einem treuen Begleiter werden. Gerne hätte ich die lokalen traditionellen Heilkräuter und -praktiken der spannenden Gegenden, die wir bereisten noch besser kennengelernt. Ob die medizinische Botanik in Bhutan oder das fast grenzenlose Spektrum chinesischer Heilmittel hier in den alten Apotheken Hongkongs: Die Neugier wäre geweckt, um Parallelen und Unterschiede im traditionellen Umgang mit Krankheit und Gesundheit auszuloten. 
In der heutigen Morgenfrühe treffe ich an einem sehr sauberen, breiten Strand ausserhalb Hongkong's die pensionierten "Morgenschwimmer". Überall plantschen sie im Wasser, widmen sich dem Tai Chi am Strand oder Meditieren im Sand, vorwiegend Pensionäre, die genügend Zeit finden, sich der Gesundheit zu widmen. Dieses morgendliche Treiben führt mir vor Augen, dass beim Reisen die Bewegung manchmal zu kurz kommt. Was bei den Kindern höchstens bei nicht endenden Busfahrten eine Sorge war, versuchten Mei und ich mit Yoga und Rückentraining zu kompensieren. Dies täuscht aber nicht darüber hinweg, dass Sport während unserer Reise eine sekundäre Rolle gespielt hat. Seit wir in China und in Hongkong weilen ist die zweite Regel der lokalen Ernährung irgendwie durcheinandergeraten. Das urbane Treiben der kosmopolitischen Küche bietet ein scheinbar unendliches Angebot von billigem Fast-Food bis zu den noblen europäischen Gourmet-Tempeln. Irgendwie schaffen wir es nicht mehr auf die lokalen Essgewohnheiten zurückzugreifen, da sich hier alles vermischt und zu jeder Tageszeit, jedes erdenkliche Mahl verspiesen wird. Langsam aber sicher sehne ich mich nach einem Stück gereiftem Alpkäse und knusprigem, dunklem Brot.

Samstag, 30. April 2011

I Ging

 Seit Wochen widme ich mich der Lektüre des Buchs der Wandlungen, dem "I Ging". In ihm verbirgt sich ein Schatz von chinesischer Lebensweisheit, die während über 3 Jahrtausenden von unzähligen Gelehrten überarbeitet, kommentiert und weiterentwickelt wurde. Das Buch legte die Grundlage für die zwei wichtigsten philosophischen Strömungen China's durch die 2 vergangenen Jahrtausende, den Taoismus und den Konfuzianismus. Konfuzius war es denn auch, der dem Buch der Wandlungen mit Kommentaren und Interpretationen seine massgebliche Prägung aufsetzte, die noch heute die chinesische Kultur nährt. Ob dieses sowohl rätselhafte wie auch tiefgründige Buch der Weltliteratur eine geeignete Lektüre für den Chinareisenden ist, bin ich mir nach 4 Tagen Grossstadt-China nicht mehr so sicher. Meine Sinne und Gedanken sind förmlich überrollt worden von den Millionen von Menschen, die sich hier im grössten urbanen Zentrum der Welt wie Ameisen 24 Stunden pro Tag bewegen.
Im "I Ging" wird das menschliche Leben mit 8 verschiedenen Symbolen erfasst, indem sie miteinander zu 64 Doppelzeichen geordnet werden. Da alle dieser 64 Zeichen wiederum in eines der 64 Zeichen übergehen können, ergeben sich über 4000 mögliche Situationen, die abbildbar werden. Die ursprünglichen Verfasser des Buches glaubten, daraus die Gesamtheit aller Wandlungen oder Veränderungen der Welt darstellen zu können. Dabei geht der Makrokosmos zwischen Himmel und Erde Hand in Hand mit dem sozialem und psychologischen Wandel des menschlichen Mikrokosmos. Und so entwickelt sich ein komplexes Gebäude zwischen kosmologischer Orientierungen und menschlicher Beziehungen und Tätigkeiten, die ebenso als Inspiration für philosophische Betrachtungen wie auch für die Orakeltradition China's dient. 
Als zentraler Gedanke erscheint immer wieder die Überzeugung, dass Makro- und Mikrokosmos, d.h. der Kosmos und der Mensch, eng miteinander verknüpft sind. Die 64 Hexagramme dienen dazu, diese Beziehungen und die möglichen Veränderungen zu ordnen und zu verstehen. Umso besser diese Dynamik verstanden und respektiert wird, desto edler werden Gedanken und Leben des Weisen, desto einfacher wird es, das eigene Schicksal zu bestimmen oder andere zu beeinflussen. Den männlichen Yang-Zeichen Himmel, Berg, Donner und Wasser stehen die weiblichen Ying-Zeichen Erde, Feuer, Wind und See gegenüber. Aus diesen Elementen wird eine Welterklärung, eine Dynamik des Werden und Vergehens und eine numerische Ordnung zusammengestellt, die ihre Wirkungsgeschichte über Jahrtausende beibehalten hat. Was ist im heutigen China von dieser tiefverankerten Kultur übriggeblieben? Was haben die uniformierten, selten lächelnden, ständig in Bewegung bleibenden Millionen für dieses Erbe noch übrig? Zu kurz ist unser Aufenthalt in China, um nur ansatzweise Antworten darauf zu finden. Tatsache ist, dass ich von philosophischer Tiefe in dieser total urbanisierten Welt mit globalisiertem Anstrich und chinesischem Chauvinismus überhaupt nichts verspüre. Im Gegenteil, überall nur Tempo, Geld und Zeitmangel, die kaum Raum lassen für Phantasie, Poesie oder Kreativität. Trotzdem hat mir die Lektüre des "I Ging" eine Türe geöffnet, um den Urgrund chinesischer Kultur mindestens im Ansatz besser zu verstehen: Die Logik der Zeichen führt den Geist in eine andere Sprachdimension und so finde ich den Weg zu ein paar wenigen der ca. 60'000 chinesischen Schriftzeichen. Der 10-jährige León erklärt mir den Computerumgang mit dem Chinesisch und übersetzt die wichtigsten Zeichen. Die chinesische Bildersprache ist die Grundlage einer anderen Logik, einer anderen Wahrnehmung, eines für mich völlig neuen Denkens. Nach dem Schulbesuch bei León frage ich mich, wie das chinesische Drill-Bildungssystem mit diesen Zeichen die heutige Jugend in die Zukunft schickt. Ebenso frage ich mich, inwiefern sich kritisches Denken in dieser Sprachtradition entwickeln kann, oder wohin dieses politische System die Welt noch führen wird. Meine schöne, abstrakte Symbolwelt des "I Ging" ist jäh auf dem harten, total verkommerzialisierten Boden der globalisierten Produktionsmaschine Südchinas aufgeprallt.

Donnerstag, 28. April 2011

Menschenflut


Es nieselt warm in den Freitagmorgen hinein. Ich stehe mit Andy und Enya auf der Schulwiese der "Clifford Estates School" in Panyu, einem Stadtteil von Guangzhou, ca. 200 km nordwestlich von Hongkong. Die Wiese ist bedeckt mit über 1000 Primarschülern. Heute ist Besuchstag, bzw. eine Art Tag der offenen Tür, wo eine perfekte chinesische Schulshow für Eltern, Bekannte und Freunde über die Bühne schillert. Die Nationalhymne eröffnet eine Darbietung, die nichts auslässt: Die Kinder tanzen, singen, musizieren mit unglaublicher Präzision und Disziplin, wie wir es von den gigantischen Massenanlässen aus China kennen. Das einzelne Individuum ist durchgetrimmt und arbeitet minutiös für das Kollektiv, sodass der Einzelne unkenntlich wird und das Gesamtbild umso beeindruckender wirkt. Neben Drachenfiguren, den chinesischen Tierkreiszeichen und diversen Tanztheatern, beeindrucken uns vor allem die perfekten Kung Fu-Choreographien der Jungs. León, Andy's Sohn turnt an vorderster Front. Die nächtliche Nervosität ist ihm nicht mehr anzusehen und er wirkt konzentriert und frisch wie alle anderen auch. Nach 3 Stunden farbigem, perfekt aufgeführten Kinderspektakel wird noch einmal das Vaterland besungen, bevor sich das Publikum langsam auflöst und mit dem wieder einsetzenden Nieselregen davonzieht.
Wieder sind wir in einer für uns neuen Welt gelandet. Das mächtige China wirkt für uns vorerst nicht nur wegen den unverständlichen Schriftzeichen als enorme Herausforderung. Ein unglaubliches Tempo hat uns bereits in Hongkong überfordert und raubt uns noch jetzt die Kräfte. Alles scheint von einer unsichtbaren Hand angetrieben und wir werden mitgezogen, mitgetrieben und mitgefangen im Sog dieser unwiderstehlichen Macht. Überall sind Menschen, alles ist in Bewegung, kein Stehenbleiben, kein Innehalten, kein Nachdenken, immer nur vorwärts, kein Blick zurück. Zuerst in den Strassenschluchten von Hongkong und nun in der Grosswerkstatt der globalisierten Wirtschaft: Wir versinken in derjenigen Menschenflut, die zur neuen, alten Weltmacht geworden ist. Von Hongkong über die nach wie vor bestehende Grenze nach Shenzhen und dann weiter über Dongguan bis nach Guangszhou hat sich in den letzten 15 Jahren ein Ballungszentrum gebildet, das mit über 40 Millionen Einwohnern zu einem Bollwerk der Weltwirtschaft wurde. Der Wohlstand, der unheimliche Boom und die urbane Lebensweise vermitteln einen zwiespältigen Eindruck auf den Spuren von aufstrebendem Reichtum und der weltweiten Vernetzung der Industrie. Die ganze Welt hat hier in dieser gigantischen "Weltfabrik" ihren chinesischen Nährboden gefunden. Die Macht des Geldes ist so dominant, dass überall dessen Präsenz Überhand genommen hat. Qualität scheint ebenso nebensächlich wie kulturelle Werte irgendwo verloren oder einfach nicht erkennbar sind. 
Für schweizerische Verhältnisse ist alles irgendwie gigantisch: Bei Andy leben wir in einer Siedlung mit 35'000 Wohneinheiten, d.h. ein Quartier mit über 100'000 Einwohner, wo alles durchorganisiert ist vom Busnetz bis zur Sicherheitsgarde, von den Swimmingpools über Schulen bis zum High-Tech-Spital und dem Altersheim, und all dies im Besitz eines einzigen Unternehmers...! Auch wenn sich hier die Masse in der Gleichförmigekeit der Siedlungsarchitektur etwas auflöst, entfliehen wir hier nur vorübergehend der Menschenflut. Als wir heute im nebenanliegenden Park eine Velotour lancieren, sind die Velowege so überfüllt, dass wir stellenweise in regelrechten Velostaus steckenbleiben. Dass die Wahrnehmung von Menschenmassen aber relativ ist, erfahren wir vor einer öffentlichen Toilette des Parks,  wo Lia mit einem Chinesen aus Shenzen parliert. Er erklärt uns, dass es bei ihm zuhause viel zu viele Leute gibt und er deshalb jeweils am Wochenende hierher kommt, um sich erholen. 

Samstag, 23. April 2011

Yogainsel

  Als Kontrast zum Sog des hiesigen Fullmoon-Kultes tummelt sich ein zweites Publikum auf dieser Insel: Die Yogaszene. Eine in Thailand noch nie gesehene Dichte von Yogakursen, Retreats, Meditationsübungen und Heilpraktiken werden auf Hochglanzbrochüren oder zerknitterten Fresszetteln angeboten. Pinwände und Ladeneingänge sind vollgeklebt mit Erleuchtungs- und Heilsversprechungen aller Art. Parallel zur Fullmoon-Szene widerspiegelt dieser Yoga-Mikrokosmos ein weiteres Gesicht des westlichen Lifestyles im asiatischen Jahrmarkt der Selbstverwirklichung. Aus aller Welt kommen die Yogaübenden, vielen bleiben hier hängen oder kommen seit Jahren für ein paar Monate, um im Tropenwind die Spiritualität zu finden, die sie in ihrem Überdruss von Konsum und Stress zu Hause nicht mehr finden.
Mei mischt seit einer Woche am Rande dieser Szene mit. Der Berner Yogi Reinhard Gammenthaler wurde für zwei Wochen Intensivkurs eingeladen. Sein Publikum ist ebenso vielfältig, wie das Yoga-Angebot auf der Insel. Mei's Woche ist intensiv und sie wirkt von Tag zu Tag physisch und psychisch entspannter. Die harte, disziplinierte Yogapraxis aus der "Berner Mattenschule" erscheint viel bodenständiger als die abgehobene verschworene Tantraszene der "Agama" Yoga-Schule: Ein Yoga-Schlagwort, zwei ziemlich unterschiedliche Wege mit differierenden Ein-, Vor und Yogastellungen, die faszinieren oder befremden. Irgendwie kriege ich das Gefühl nicht los, dass ich einer der wenigen Ausländer auf dieser Insel bin, die weder Yoga noch Fullmoonparties praktizieren. Sogar die Mädchen engagieren sich im Kinderyoga mit ihrer neuen Freundin Neves, die sie am Strand getroffen haben. Auch das Yogapublikum ist globalisiert, normalerweise eher älter als die Party-Junkies aber ebenso geprägt von  hedonistisch-narzistischen Persönlichkeiten aus dem Westen. Als Insel-Szene-Markenzeichen ist mindestens ein Tattoo an exponierter Lage verlangt. Die meist gut geformten Körper verhüllen sich bei den Männern eher dürftig , währenddem die Frauen einen feenhaften Look zelebrieren, möglichst indisch, langrockig und langhaarig. Ein buntes Gemisch von Esoterik, Wahrheitssuche und Selbstverwirklichung hat sich hier zwischen Palmen, Sandstrand Dschungeldickicht eingenistet. Zufällig stossen wir auf diese bunte Menge während einem akkustischen Gitarrenkonzert im "Art Caffé". Zuerst spüren wir so etwas wie Kommunengeist dank lieblich fein angestimmten Beatles-Coverversionen. Da sich hier alle lieben, lächelt jeder, was er kann. Allerdings verspüre ich wenig Einfühlungsvermögen gegenüber Nicht-Eingeweihten. Kinder sind schon gar nicht erwünscht. So ernten wir mit den 3 Mädels glasige Blicke, als ob Kinder ein Vergehen gegen die spirituelle Selbstverwirklichung bedeute. Meine Kommunikationsversuche scheitern kläglich. Irgendwie läuft's mir kalt den Rücken runter ob so viel Liebes-Theater, nichts scheint natürlich, alles irgendwie wie im Film. Möglich, dass ich da einfach nicht mithalten kann, und ich diese feinstoffliche Ebene eher als absurdes Drama denn als spiritueller Weg wahrnehme.
Zum Abschluss der Yogaausbildung in der "Agama"-Yoga-Schule, werden in einem grossen Saal jeweils im Rahmen der "Final Ceremony" die Diplome vergeben. Erstmals dürfen auch die Kleinsten ihr Yogadiplom beim Guru Swami Vivekananda persönlich abholen. Mit Blumenkranz, Bindi-Punkt und Reisküchlein wird ihr Einsatz zeremoniell gewürdigt. Dann zeigen die Mädchen (Jungs sind dieses Mal keine dabei) ein kleine Probelektion und zum Erstaunen aller platziert sich auch Enya selbstbewusst auf der Matte vor dem Thron des Meisters. Obwohl alle Mädchen ihr bestes geben, stiehlt Enya natürlich allen die Show: Hochkonzentriert mit einer Engels-Mimik, die selbst Guru Swami Vivekananda erblassen lässt, zeigt sie ihren Sonnengruss würdevoll. Ein wahres Blitzlichtgewitter erfüllt die Halle und die sonst verbreitete Zurückhaltung gegenüber den Kindern löst sich langsam auf in Schmunzeln und Staunen: Die Kinder bleiben auf dem Boden und warnen vor der Verblendung auf dem Weg zu Erleuchtung.

Mittwoch, 20. April 2011

Auf dem Hund

  Friedlich gräbt sich Tessa in den noch kühlen Morgensand. Die Mädchen waren sich nicht gleich einig, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt. Also haben sie ihn Tessa getauft. Seid er Mei's Schoggi-Gipfeli erwischt hat, sitzt er jeden Morgen vor unserem Bungalow und erhofft sich eine Z'morgä-Überraschung. Er ist einer von den Hunderten von Strandhunden, die sich auf der Insel in herrenlosen Hunderudeln organisieren. Sie sind meist friedlich, konstant hungrig und neugierig und veranstalten vor allem nachts sowohl angeregte Bell-Konzerte wie auch blutige Rangkämpfe.
Das Hundegebell der streunenden Heimatlosen begleitet uns seit Beginn unserer Reise. Überall sind sie, ob Strand, Gebirge, Dschungel, Stadt oder Reisfelder: Überall spielen, jagen, schnüffeln und paaren sie sich. Die Hundedichte pro Kopf ist wohl in vielen asiatischen Staaten viel kleiner als in der Schweiz. Die Hundepräsenz im öffentlichen Raum ist aber durch ihre Obdachlosigkeit allgegenwärtig. Sie sind zum Streunen geboren und leben in halb verwilderten Rudeln. Wie bei allen Hunden und Wölfen, die in freier oder halb-freier Wildbahn leben pflegen sie ein äusserst interessantes Sozialleben. Dies äussert sich für den Hundelaien vor allem nachts, wenn "Stammesfehden" und "Diskussionsrunden" in lautem Gebell und Gejaule ausgetragen werden. Nicht selten kommt es zu groben Raufereien mit Verletzten, um die Territorien und Rangordnungen neu festzulegen. Die Methoden zur Geburtenkontrolle und die Überwachung von Krankheiten oder Beissunfällen unterscheiden sich von Land zu Land. Vielerorts werden ab und zu Sterilisationskampagnen durchgeführt. Dies kostet Geld und ist dem Staat oft zu teuer. So formieren sich ab und zu auch Tierschutzorganisationen oder Freiwilligen-Einsätze. 
Ein Spezialfall ist einmal mehr Bhutan: Die Hunde werden wegen dem buddhistischen Tötungsverbot nicht eingeschläfert, auch wenn sie sich in bedauernswertem Zustand durch die Strassen schleppen. In einzelnen Quartieren gibt es barmherzige "Hundepfleger", welche die Tiere füttern und verarzten. Vor allem in den grösseren Städten vermehren sich  die Strassenhunde völlig unkontrolliert. In Paro wurden vor einigen Jahren zwei unkonventionelle Methoden zur Eindämmung der explodierenden Hundepopulation ausprobiert: Zuerst wurden alle Hunde eingesammelt und in der Nacht in einen grossen Verschlag zusammengepfercht. Am zweiten Tag war es um die guten Absichten geschehen. Die Hunde kämpften bis der Pferch eingestampft war und die Hunde wieder ihre angestammten Reviere eingenommen hatten. Der zweite Versuch endete mit dem selben Ergebnis: Die Hunde wurden auf Lastwagen in einem entlegenem Tal 100 km entfernt im Wald ausgesetzt. Nach 3 Tagen waren die meisten wieder in der Stadt vor denselben Müllhaufen und Haustüren zu finden, die sie schon immer bewohnten.
Verglichen mit europäischen Zuchtambitionen, Gesetzen und Vermarktung der Hundehaltung mag diese Streunerei einen barbarischen Eindruck hinterlassen. Beobachte ich diese Hunde eindringlich, wie sie ihr Wolfsblut ausleben, bin ich jedoch überzeugt, dass sie die glücklicheren Tiere sind, auch wenn der Vergleich problematisch bleiben muss. Aggressivität gegenüber dem Menschen habe ich bisher noch nie erlebt. Einzig am Tag des Vollmondes war die Stimmung unter den Vierbeinern leicht angereizt. Beim Betrachten der Fullmoonparty-Besucher würde ich mich als Hund in diesen Tagen nicht anders verhalten: Knurren, Lefzen ziehen und höchste Alarmbereitschaft erstellen.