Dienstag, 10. Mai 2011

Kuhglockenblues


Es bimmelt und muht, dann Jodelstimmen, ein Chörli und leise Stimmen im Vordergrund: Im Verbindungszug von der Landebahn zum Hauptgebäude des Zürcher Flughafens sollen die urschweizerischen Klänge für die Heimkehrer ein heimatliches Ambiente und für den Neuankömmling ein erster Eindruck von Alpenromantik verbreiten. Benommen, übermüdet und leicht befremdet lasse ich mich berieseln von diesen Stimmen althergebrachter Folklore. Plötzlich spüre ich ein ganz mulmiges Gefühl, das eine Mischung aus Beklemmung, Kulturenge und Platzangst in die müden Glieder verströmt. Surreal vermischen sich Kuhglocken und Jodelchörli zwischen die Spiegel- und Glasarchitektur des Zürcher Eingangstor zum Schweizer Schoggi- und Käseland. Hilflos überlasse ich mich einer Überdosis von Symbolik, die in Richtung Gepäckrückgabe weist. Ein "Grüezi mitenand" im Zeitlupentempo an der Passkontrolle wie auch die verschlafenen Gesichter der Zöllner stimmen einen disharmonischen Heimatblues an, den ich seither noch nicht losgeworden bin.
In die sogenannte Heimat zurückkehren ist nach längerem Herumreisen in fernen Landen kein Zuckerschlecken. Im Gegenteil, an jeder Ecke warten Erinnerungen, Assoziationen und Geschichten, wo einem die eigene Vergangenheit ein- oder sogar überholt.
Nach knapp 8 Monaten wieder in der schweizerischen Stube zu landen, löst eigenartige Gefühlszustände hervor. Während die Mädchen ausgeschlafen und glücklich das Wiedersehen mit Grosseltern und Gotti feiern, schwanke ich in einer neuen, alten Welt, leicht beduselt in den frischen Kaffeeduft hinein. Sind es die schlaflosen Stunden der vergangenen Flugnacht oder die glänzend aufgezogenen Schweizer Werbeetiketten in den Flughafengängen, die Freude und Dankbarkeit mit Melancholie würzen? 
Heimkehr, Rückkehr oder Zurückfinden in jene Welt, die sich scheinbar überhaupt nicht verändert hat, wird zur ungeahnten Herausforderung. Während die Erlebnisse der zurückliegenden Monate noch nicht alle verdaut sind, bricht eine altbekannte Alltagsdynamik den Reiserhythmus, von dem wir uns nur schwer trennen können. Hier scheint alles wie eh und je, geordnet, irgendwie hervorhersehbar und kontrolliert.
Allmählich machen wir uns daran, erste Wiederintegrationsversuche zu starten, wie zum Beispiel Handys reaktivieren, Kindersitzli organisieren oder Termine ansetzen. Glücklicherweise ziehen wir auch in der Schweiz noch einige Tage umher, sodass wir uns den Gewohnheiten des Zuhause-Seins noch entziehen können. Vielleicht ist die bevorstehende Alpzeit die richtige Medizin, um den Kuhglockenblues sanft zu pflegen und die eigenen Tonarten wiederzufinden. 
Heimat scheint sowohl ein wohltuendes wie auch aufwühlendes Wort zu sein, das als zweischneidiges Schwert nationale und emotionale Geborgenheit suggeriert. Das Reisen als Gegenpol zum Hafen an vertrauten Ufern kann diese Gefühle anheizen oder zerstreuen. Je nach Verwurzelungsgrad, Identitätskrisen oder Kulturverdruss: Die Ankunft in den vermeintlich eigenen Ursprüngen bringt dem bewegten Geist Nahrung, die oft schwerverdaulich ist. Nicht umsonst werden Rückkehrer aus Entwicklungsprojekten und längeren Auslandeinsätzen sorgfältig auf die Wiederintegration vorbereitet. Wir arbeiten auch daran, um möglichst bald die Kurve auf die Alp zu kriegen. Nur so schaffen wir den Sprung von der Hongkonger Grossstadt-Neurose zum Ziegenmeckern bei Gewitterregen und Stallgeruch.

Freitag, 6. Mai 2011

Hafenpoesie

  Aus dem 30. Stock unseres Hotels beobachte ich das nächtliche Treiben des momentan drittgrössten Hafens der Welt. Zehntausende von Containern stapeln sich wie Bausteine auf dem Gelände des "Victoria Harbour" in Hongkong. Während 24 Stunden, 7 Tage in der Woche, wird hier be- und entladen. Zentimetergenau schieben die gewaltigen Hafenkräne die Tonnen hin- und her, welche den Welthandel zwischen Asien und dem Rest der Welt als ein gigantisches Legospiel erscheinen lassen. 450'000 Schiffe verkehren jährlich in diesem logistischen Wunderwerk. Dabei wird 250 Millionen Tonnen Frachtgut verladen. Die durchschnittliche Anlegezeit zum Ent- und Beladen der Containerriesen beträgt gerade mal 10 Stunden. Beim Anblick des Hafengeländes flüstert mir Lia ins Ohr: "Papa in dieser Stadt gibt es keine Häuser, nur Kisten!"
Menschen sind wenige zu sehen zwischen diesen Kistentürmen. Kranführer und Lastwagenchauffeure sitzen in ihren Führerkabinen. Fast gespenstisch schnell und ruhig werden die unheimlichen Frachtmengen verarbeitet. Nur das unaufhörliche Krangeräusch und die Motoren der Sattelschlepper bilden einen konstanten Klangteppich. Das Lichtermeer des Hafenviertels unterscheidet sich im weichen Gelbton zu den grell farbenen Lichtern der Hongkonger Skyline im Hintergrund. Der ganze Hafen befindet sich in einer einmaligen Arena von unzähligen Hochhäusern, die sich in die tiefliegenden Nachtwolken recken. Im Lichtermosaik leben 8 Millionen Einwohner auf sehr engem Raum in die Höhe gepfercht. Deswegen bildet das zerklüftete Inselgebiet ein sehr dicht besiedeltes Gebeit mit fast 7000 Einwohnern pro Quadratkilometer: Ein asiatischer "Melting Pot" der Kulturen, wo immer weniger der einst dominanten britischen Kolonialmacht zu spüren ist, dafür die Chinesen zusehends an Einfluss gewinnen. "Ein Land, zwei Systeme" war der Leitspruch der chinesischen Übernahme seit 1997. Dies ist heute noch eindrücklich wahrzunehmen beim Übertreten der Grenze nach Shenzen. Nicht nur im Hafen läuft alles reibungslos in Hongkong, auch die Metro, das öffentliche Transportwesen oder das Strassenverkehrskonzept hinterlassen einen beeindruckendes Bild. Alles ist und bleibt sauber und vor allem sicher. Sicherheit, welcher Art auch immer, ist grossgeschrieben. Auffallend viele uniformierte Ordnungshüter fühlen sich verantwortlich für dieses öffentliche Gut, das schliesslich immer wieder als ein Teil der hiesigen Lebensqualität betont wird.
Mit Blick von unserem Hochhaus ins Hafenlabyrinth, fühle ich durch die sauber polierten Fenster eine Hafenstimmung, die fast surreal wirkt. Als ob ich in einem Elfenbeinturm sitzen würde, bemerke ich kaum, wie ich in eine sanfte Hafenromantik abgleite. Es ist Mitternacht und die Geschäftigkeit geht unvermindert weiter. Was verbirgt sich in allen diesen Containern, wo fahren sie hin? Wo werden all die T-Shirts verschwitzt, die I-Phones "betoucht" und die Kinderspielzeuge verschenkt werden? Die globale Drehscheibe, die mir zu Füssen liegt, verführt nicht nur durch seine nächtliche Ästhethik. Sie inspiriert ebenso zu konkreten Geschichten, die eine virtuell vernetzte Welt physisch verbinden. Sie bildet quasi das materielle Pendant zur  Macht des Internets und strahlt eine Arbeits-Poesie aus, die an Piratengeschichten und Seemanns-Anekdoten erinnern. Während ich online über die Hongkonger Skyline in die Welt hinausblicke, erinnert die Containerlandschaft an eine Alltagsrealität, die als logistisches Zentrum des Welthandels aus den astronomischen Warenflüssen der chinesischen Produktionsmaschine entspringt. Das Klötzlispiel nimmt seinen Lauf und so lange sich die Lego-Steine nicht zu Dominosteinen oder Casino-Würfel verwandeln, werden die Wogen der Weltmeere diese Lasten weitertreiben lassen.

Montag, 2. Mai 2011

Reisegesundheit

Bekanntlich schätzt man den Wert der Gesundheit erst richtig, wenn einem die Verletzlichkeit des eigenen Körpers durch Krankheit oder Unfall und den damit verbundenen Schmerzen so richtig bewusst wird. In der Fremde kann einem dies psychisch besonders hart treffen, sehnt sich doch der Kranke nach Ruhe, Geborgenheit und vertrauten Menschen. Vielleicht sind deshalb Krankheiten in unbekanntem Umfeld unter den Reisenden besonders gefürchtet. Kommt hinzu, dass die europäischen Ärzte, insbesonders die Tropenspezialisten, ein- und oft aufdringlich vor lauernden Gefahren warnen. Sind dann die Tropenreisenden Kleinkinder, wird ein solches Unterfangen oft nur noch mit Kopfschütteln und Sorgenfalten quittiert.
Auch wir hatten zu Beginn unserer Reise gewisse Bedenken, wie die Kinder mit Klima, Essen und den überall präsenten Moskitos umgehen können. Eher vorsichtig starteteten wir ins klimatische und kulinarische Neuland mit Antimückenspray und homöopathischer Reiseapotheke.
Nach 8 Monaten unterwegs können wir auf die gesündeste Kinderzeit zurückblicken, die wir je erlebten. Allen Warnungen zum Trotz haben wir weder Magenprobleme, Fieber oder Infektionen erlebt. Abgesehen von einigen Würmern, die wir schmerzlos entfernen konnten, sind wir glücklicherweise von Krankheiten verschont geblieben. Ist dies ein Zufall oder hat sich einfach unser Vertrauen auf den intuitiven Ratgeber ausbezahlt? Schon seit Beginn unserer Reise hielten wir uns diszipliniert an 4 Grundregeln: Genügend Schlaf, einheimische Kost und Essgewohnheiten annehmen, immer genügend sauberes Wasser trinken und regelmässige, dem Klima angepasste Bewegung. Diese völlig banalen und intuitiv jedem einleuchtenden Prinzipien reichen aus, um das Immunsystem ideal auf die klimatischen und kulinarischen Herausforderungen einzustellen. So bemerkten wir sehr bald die heilende Kraft der laotischen Krautküche mit Nudelsuppe zum Z'morge oder das bhutanesische Chili-Gericht Ema Datsi gegen Kälte und Hunger. Wer Zeit hat unterwegs, muss sich weder durchimpfen lassen noch eine mit Chemie vollgestopfte Reiseapotheke mitführen. Was bei uns sowohl eine psychologische Unterstützung, wie auch für Notfälle immer zur Hand war, reduzierte sich auf die kleinen weissen "Kügeli" aus der Schweiz. Die Homöopathie kann vor allem für die Kinder zu einem treuen Begleiter werden. Gerne hätte ich die lokalen traditionellen Heilkräuter und -praktiken der spannenden Gegenden, die wir bereisten noch besser kennengelernt. Ob die medizinische Botanik in Bhutan oder das fast grenzenlose Spektrum chinesischer Heilmittel hier in den alten Apotheken Hongkongs: Die Neugier wäre geweckt, um Parallelen und Unterschiede im traditionellen Umgang mit Krankheit und Gesundheit auszuloten. 
In der heutigen Morgenfrühe treffe ich an einem sehr sauberen, breiten Strand ausserhalb Hongkong's die pensionierten "Morgenschwimmer". Überall plantschen sie im Wasser, widmen sich dem Tai Chi am Strand oder Meditieren im Sand, vorwiegend Pensionäre, die genügend Zeit finden, sich der Gesundheit zu widmen. Dieses morgendliche Treiben führt mir vor Augen, dass beim Reisen die Bewegung manchmal zu kurz kommt. Was bei den Kindern höchstens bei nicht endenden Busfahrten eine Sorge war, versuchten Mei und ich mit Yoga und Rückentraining zu kompensieren. Dies täuscht aber nicht darüber hinweg, dass Sport während unserer Reise eine sekundäre Rolle gespielt hat. Seit wir in China und in Hongkong weilen ist die zweite Regel der lokalen Ernährung irgendwie durcheinandergeraten. Das urbane Treiben der kosmopolitischen Küche bietet ein scheinbar unendliches Angebot von billigem Fast-Food bis zu den noblen europäischen Gourmet-Tempeln. Irgendwie schaffen wir es nicht mehr auf die lokalen Essgewohnheiten zurückzugreifen, da sich hier alles vermischt und zu jeder Tageszeit, jedes erdenkliche Mahl verspiesen wird. Langsam aber sicher sehne ich mich nach einem Stück gereiftem Alpkäse und knusprigem, dunklem Brot.