Freitag, 6. Mai 2011

Hafenpoesie

  Aus dem 30. Stock unseres Hotels beobachte ich das nächtliche Treiben des momentan drittgrössten Hafens der Welt. Zehntausende von Containern stapeln sich wie Bausteine auf dem Gelände des "Victoria Harbour" in Hongkong. Während 24 Stunden, 7 Tage in der Woche, wird hier be- und entladen. Zentimetergenau schieben die gewaltigen Hafenkräne die Tonnen hin- und her, welche den Welthandel zwischen Asien und dem Rest der Welt als ein gigantisches Legospiel erscheinen lassen. 450'000 Schiffe verkehren jährlich in diesem logistischen Wunderwerk. Dabei wird 250 Millionen Tonnen Frachtgut verladen. Die durchschnittliche Anlegezeit zum Ent- und Beladen der Containerriesen beträgt gerade mal 10 Stunden. Beim Anblick des Hafengeländes flüstert mir Lia ins Ohr: "Papa in dieser Stadt gibt es keine Häuser, nur Kisten!"
Menschen sind wenige zu sehen zwischen diesen Kistentürmen. Kranführer und Lastwagenchauffeure sitzen in ihren Führerkabinen. Fast gespenstisch schnell und ruhig werden die unheimlichen Frachtmengen verarbeitet. Nur das unaufhörliche Krangeräusch und die Motoren der Sattelschlepper bilden einen konstanten Klangteppich. Das Lichtermeer des Hafenviertels unterscheidet sich im weichen Gelbton zu den grell farbenen Lichtern der Hongkonger Skyline im Hintergrund. Der ganze Hafen befindet sich in einer einmaligen Arena von unzähligen Hochhäusern, die sich in die tiefliegenden Nachtwolken recken. Im Lichtermosaik leben 8 Millionen Einwohner auf sehr engem Raum in die Höhe gepfercht. Deswegen bildet das zerklüftete Inselgebiet ein sehr dicht besiedeltes Gebeit mit fast 7000 Einwohnern pro Quadratkilometer: Ein asiatischer "Melting Pot" der Kulturen, wo immer weniger der einst dominanten britischen Kolonialmacht zu spüren ist, dafür die Chinesen zusehends an Einfluss gewinnen. "Ein Land, zwei Systeme" war der Leitspruch der chinesischen Übernahme seit 1997. Dies ist heute noch eindrücklich wahrzunehmen beim Übertreten der Grenze nach Shenzen. Nicht nur im Hafen läuft alles reibungslos in Hongkong, auch die Metro, das öffentliche Transportwesen oder das Strassenverkehrskonzept hinterlassen einen beeindruckendes Bild. Alles ist und bleibt sauber und vor allem sicher. Sicherheit, welcher Art auch immer, ist grossgeschrieben. Auffallend viele uniformierte Ordnungshüter fühlen sich verantwortlich für dieses öffentliche Gut, das schliesslich immer wieder als ein Teil der hiesigen Lebensqualität betont wird.
Mit Blick von unserem Hochhaus ins Hafenlabyrinth, fühle ich durch die sauber polierten Fenster eine Hafenstimmung, die fast surreal wirkt. Als ob ich in einem Elfenbeinturm sitzen würde, bemerke ich kaum, wie ich in eine sanfte Hafenromantik abgleite. Es ist Mitternacht und die Geschäftigkeit geht unvermindert weiter. Was verbirgt sich in allen diesen Containern, wo fahren sie hin? Wo werden all die T-Shirts verschwitzt, die I-Phones "betoucht" und die Kinderspielzeuge verschenkt werden? Die globale Drehscheibe, die mir zu Füssen liegt, verführt nicht nur durch seine nächtliche Ästhethik. Sie inspiriert ebenso zu konkreten Geschichten, die eine virtuell vernetzte Welt physisch verbinden. Sie bildet quasi das materielle Pendant zur  Macht des Internets und strahlt eine Arbeits-Poesie aus, die an Piratengeschichten und Seemanns-Anekdoten erinnern. Während ich online über die Hongkonger Skyline in die Welt hinausblicke, erinnert die Containerlandschaft an eine Alltagsrealität, die als logistisches Zentrum des Welthandels aus den astronomischen Warenflüssen der chinesischen Produktionsmaschine entspringt. Das Klötzlispiel nimmt seinen Lauf und so lange sich die Lego-Steine nicht zu Dominosteinen oder Casino-Würfel verwandeln, werden die Wogen der Weltmeere diese Lasten weitertreiben lassen.