Dienstag, 10. Mai 2011

Kuhglockenblues


Es bimmelt und muht, dann Jodelstimmen, ein Chörli und leise Stimmen im Vordergrund: Im Verbindungszug von der Landebahn zum Hauptgebäude des Zürcher Flughafens sollen die urschweizerischen Klänge für die Heimkehrer ein heimatliches Ambiente und für den Neuankömmling ein erster Eindruck von Alpenromantik verbreiten. Benommen, übermüdet und leicht befremdet lasse ich mich berieseln von diesen Stimmen althergebrachter Folklore. Plötzlich spüre ich ein ganz mulmiges Gefühl, das eine Mischung aus Beklemmung, Kulturenge und Platzangst in die müden Glieder verströmt. Surreal vermischen sich Kuhglocken und Jodelchörli zwischen die Spiegel- und Glasarchitektur des Zürcher Eingangstor zum Schweizer Schoggi- und Käseland. Hilflos überlasse ich mich einer Überdosis von Symbolik, die in Richtung Gepäckrückgabe weist. Ein "Grüezi mitenand" im Zeitlupentempo an der Passkontrolle wie auch die verschlafenen Gesichter der Zöllner stimmen einen disharmonischen Heimatblues an, den ich seither noch nicht losgeworden bin.
In die sogenannte Heimat zurückkehren ist nach längerem Herumreisen in fernen Landen kein Zuckerschlecken. Im Gegenteil, an jeder Ecke warten Erinnerungen, Assoziationen und Geschichten, wo einem die eigene Vergangenheit ein- oder sogar überholt.
Nach knapp 8 Monaten wieder in der schweizerischen Stube zu landen, löst eigenartige Gefühlszustände hervor. Während die Mädchen ausgeschlafen und glücklich das Wiedersehen mit Grosseltern und Gotti feiern, schwanke ich in einer neuen, alten Welt, leicht beduselt in den frischen Kaffeeduft hinein. Sind es die schlaflosen Stunden der vergangenen Flugnacht oder die glänzend aufgezogenen Schweizer Werbeetiketten in den Flughafengängen, die Freude und Dankbarkeit mit Melancholie würzen? 
Heimkehr, Rückkehr oder Zurückfinden in jene Welt, die sich scheinbar überhaupt nicht verändert hat, wird zur ungeahnten Herausforderung. Während die Erlebnisse der zurückliegenden Monate noch nicht alle verdaut sind, bricht eine altbekannte Alltagsdynamik den Reiserhythmus, von dem wir uns nur schwer trennen können. Hier scheint alles wie eh und je, geordnet, irgendwie hervorhersehbar und kontrolliert.
Allmählich machen wir uns daran, erste Wiederintegrationsversuche zu starten, wie zum Beispiel Handys reaktivieren, Kindersitzli organisieren oder Termine ansetzen. Glücklicherweise ziehen wir auch in der Schweiz noch einige Tage umher, sodass wir uns den Gewohnheiten des Zuhause-Seins noch entziehen können. Vielleicht ist die bevorstehende Alpzeit die richtige Medizin, um den Kuhglockenblues sanft zu pflegen und die eigenen Tonarten wiederzufinden. 
Heimat scheint sowohl ein wohltuendes wie auch aufwühlendes Wort zu sein, das als zweischneidiges Schwert nationale und emotionale Geborgenheit suggeriert. Das Reisen als Gegenpol zum Hafen an vertrauten Ufern kann diese Gefühle anheizen oder zerstreuen. Je nach Verwurzelungsgrad, Identitätskrisen oder Kulturverdruss: Die Ankunft in den vermeintlich eigenen Ursprüngen bringt dem bewegten Geist Nahrung, die oft schwerverdaulich ist. Nicht umsonst werden Rückkehrer aus Entwicklungsprojekten und längeren Auslandeinsätzen sorgfältig auf die Wiederintegration vorbereitet. Wir arbeiten auch daran, um möglichst bald die Kurve auf die Alp zu kriegen. Nur so schaffen wir den Sprung von der Hongkonger Grossstadt-Neurose zum Ziegenmeckern bei Gewitterregen und Stallgeruch.

Freitag, 6. Mai 2011

Hafenpoesie

  Aus dem 30. Stock unseres Hotels beobachte ich das nächtliche Treiben des momentan drittgrössten Hafens der Welt. Zehntausende von Containern stapeln sich wie Bausteine auf dem Gelände des "Victoria Harbour" in Hongkong. Während 24 Stunden, 7 Tage in der Woche, wird hier be- und entladen. Zentimetergenau schieben die gewaltigen Hafenkräne die Tonnen hin- und her, welche den Welthandel zwischen Asien und dem Rest der Welt als ein gigantisches Legospiel erscheinen lassen. 450'000 Schiffe verkehren jährlich in diesem logistischen Wunderwerk. Dabei wird 250 Millionen Tonnen Frachtgut verladen. Die durchschnittliche Anlegezeit zum Ent- und Beladen der Containerriesen beträgt gerade mal 10 Stunden. Beim Anblick des Hafengeländes flüstert mir Lia ins Ohr: "Papa in dieser Stadt gibt es keine Häuser, nur Kisten!"
Menschen sind wenige zu sehen zwischen diesen Kistentürmen. Kranführer und Lastwagenchauffeure sitzen in ihren Führerkabinen. Fast gespenstisch schnell und ruhig werden die unheimlichen Frachtmengen verarbeitet. Nur das unaufhörliche Krangeräusch und die Motoren der Sattelschlepper bilden einen konstanten Klangteppich. Das Lichtermeer des Hafenviertels unterscheidet sich im weichen Gelbton zu den grell farbenen Lichtern der Hongkonger Skyline im Hintergrund. Der ganze Hafen befindet sich in einer einmaligen Arena von unzähligen Hochhäusern, die sich in die tiefliegenden Nachtwolken recken. Im Lichtermosaik leben 8 Millionen Einwohner auf sehr engem Raum in die Höhe gepfercht. Deswegen bildet das zerklüftete Inselgebiet ein sehr dicht besiedeltes Gebeit mit fast 7000 Einwohnern pro Quadratkilometer: Ein asiatischer "Melting Pot" der Kulturen, wo immer weniger der einst dominanten britischen Kolonialmacht zu spüren ist, dafür die Chinesen zusehends an Einfluss gewinnen. "Ein Land, zwei Systeme" war der Leitspruch der chinesischen Übernahme seit 1997. Dies ist heute noch eindrücklich wahrzunehmen beim Übertreten der Grenze nach Shenzen. Nicht nur im Hafen läuft alles reibungslos in Hongkong, auch die Metro, das öffentliche Transportwesen oder das Strassenverkehrskonzept hinterlassen einen beeindruckendes Bild. Alles ist und bleibt sauber und vor allem sicher. Sicherheit, welcher Art auch immer, ist grossgeschrieben. Auffallend viele uniformierte Ordnungshüter fühlen sich verantwortlich für dieses öffentliche Gut, das schliesslich immer wieder als ein Teil der hiesigen Lebensqualität betont wird.
Mit Blick von unserem Hochhaus ins Hafenlabyrinth, fühle ich durch die sauber polierten Fenster eine Hafenstimmung, die fast surreal wirkt. Als ob ich in einem Elfenbeinturm sitzen würde, bemerke ich kaum, wie ich in eine sanfte Hafenromantik abgleite. Es ist Mitternacht und die Geschäftigkeit geht unvermindert weiter. Was verbirgt sich in allen diesen Containern, wo fahren sie hin? Wo werden all die T-Shirts verschwitzt, die I-Phones "betoucht" und die Kinderspielzeuge verschenkt werden? Die globale Drehscheibe, die mir zu Füssen liegt, verführt nicht nur durch seine nächtliche Ästhethik. Sie inspiriert ebenso zu konkreten Geschichten, die eine virtuell vernetzte Welt physisch verbinden. Sie bildet quasi das materielle Pendant zur  Macht des Internets und strahlt eine Arbeits-Poesie aus, die an Piratengeschichten und Seemanns-Anekdoten erinnern. Während ich online über die Hongkonger Skyline in die Welt hinausblicke, erinnert die Containerlandschaft an eine Alltagsrealität, die als logistisches Zentrum des Welthandels aus den astronomischen Warenflüssen der chinesischen Produktionsmaschine entspringt. Das Klötzlispiel nimmt seinen Lauf und so lange sich die Lego-Steine nicht zu Dominosteinen oder Casino-Würfel verwandeln, werden die Wogen der Weltmeere diese Lasten weitertreiben lassen.

Montag, 2. Mai 2011

Reisegesundheit

Bekanntlich schätzt man den Wert der Gesundheit erst richtig, wenn einem die Verletzlichkeit des eigenen Körpers durch Krankheit oder Unfall und den damit verbundenen Schmerzen so richtig bewusst wird. In der Fremde kann einem dies psychisch besonders hart treffen, sehnt sich doch der Kranke nach Ruhe, Geborgenheit und vertrauten Menschen. Vielleicht sind deshalb Krankheiten in unbekanntem Umfeld unter den Reisenden besonders gefürchtet. Kommt hinzu, dass die europäischen Ärzte, insbesonders die Tropenspezialisten, ein- und oft aufdringlich vor lauernden Gefahren warnen. Sind dann die Tropenreisenden Kleinkinder, wird ein solches Unterfangen oft nur noch mit Kopfschütteln und Sorgenfalten quittiert.
Auch wir hatten zu Beginn unserer Reise gewisse Bedenken, wie die Kinder mit Klima, Essen und den überall präsenten Moskitos umgehen können. Eher vorsichtig starteteten wir ins klimatische und kulinarische Neuland mit Antimückenspray und homöopathischer Reiseapotheke.
Nach 8 Monaten unterwegs können wir auf die gesündeste Kinderzeit zurückblicken, die wir je erlebten. Allen Warnungen zum Trotz haben wir weder Magenprobleme, Fieber oder Infektionen erlebt. Abgesehen von einigen Würmern, die wir schmerzlos entfernen konnten, sind wir glücklicherweise von Krankheiten verschont geblieben. Ist dies ein Zufall oder hat sich einfach unser Vertrauen auf den intuitiven Ratgeber ausbezahlt? Schon seit Beginn unserer Reise hielten wir uns diszipliniert an 4 Grundregeln: Genügend Schlaf, einheimische Kost und Essgewohnheiten annehmen, immer genügend sauberes Wasser trinken und regelmässige, dem Klima angepasste Bewegung. Diese völlig banalen und intuitiv jedem einleuchtenden Prinzipien reichen aus, um das Immunsystem ideal auf die klimatischen und kulinarischen Herausforderungen einzustellen. So bemerkten wir sehr bald die heilende Kraft der laotischen Krautküche mit Nudelsuppe zum Z'morge oder das bhutanesische Chili-Gericht Ema Datsi gegen Kälte und Hunger. Wer Zeit hat unterwegs, muss sich weder durchimpfen lassen noch eine mit Chemie vollgestopfte Reiseapotheke mitführen. Was bei uns sowohl eine psychologische Unterstützung, wie auch für Notfälle immer zur Hand war, reduzierte sich auf die kleinen weissen "Kügeli" aus der Schweiz. Die Homöopathie kann vor allem für die Kinder zu einem treuen Begleiter werden. Gerne hätte ich die lokalen traditionellen Heilkräuter und -praktiken der spannenden Gegenden, die wir bereisten noch besser kennengelernt. Ob die medizinische Botanik in Bhutan oder das fast grenzenlose Spektrum chinesischer Heilmittel hier in den alten Apotheken Hongkongs: Die Neugier wäre geweckt, um Parallelen und Unterschiede im traditionellen Umgang mit Krankheit und Gesundheit auszuloten. 
In der heutigen Morgenfrühe treffe ich an einem sehr sauberen, breiten Strand ausserhalb Hongkong's die pensionierten "Morgenschwimmer". Überall plantschen sie im Wasser, widmen sich dem Tai Chi am Strand oder Meditieren im Sand, vorwiegend Pensionäre, die genügend Zeit finden, sich der Gesundheit zu widmen. Dieses morgendliche Treiben führt mir vor Augen, dass beim Reisen die Bewegung manchmal zu kurz kommt. Was bei den Kindern höchstens bei nicht endenden Busfahrten eine Sorge war, versuchten Mei und ich mit Yoga und Rückentraining zu kompensieren. Dies täuscht aber nicht darüber hinweg, dass Sport während unserer Reise eine sekundäre Rolle gespielt hat. Seit wir in China und in Hongkong weilen ist die zweite Regel der lokalen Ernährung irgendwie durcheinandergeraten. Das urbane Treiben der kosmopolitischen Küche bietet ein scheinbar unendliches Angebot von billigem Fast-Food bis zu den noblen europäischen Gourmet-Tempeln. Irgendwie schaffen wir es nicht mehr auf die lokalen Essgewohnheiten zurückzugreifen, da sich hier alles vermischt und zu jeder Tageszeit, jedes erdenkliche Mahl verspiesen wird. Langsam aber sicher sehne ich mich nach einem Stück gereiftem Alpkäse und knusprigem, dunklem Brot.

Samstag, 30. April 2011

I Ging

 Seit Wochen widme ich mich der Lektüre des Buchs der Wandlungen, dem "I Ging". In ihm verbirgt sich ein Schatz von chinesischer Lebensweisheit, die während über 3 Jahrtausenden von unzähligen Gelehrten überarbeitet, kommentiert und weiterentwickelt wurde. Das Buch legte die Grundlage für die zwei wichtigsten philosophischen Strömungen China's durch die 2 vergangenen Jahrtausende, den Taoismus und den Konfuzianismus. Konfuzius war es denn auch, der dem Buch der Wandlungen mit Kommentaren und Interpretationen seine massgebliche Prägung aufsetzte, die noch heute die chinesische Kultur nährt. Ob dieses sowohl rätselhafte wie auch tiefgründige Buch der Weltliteratur eine geeignete Lektüre für den Chinareisenden ist, bin ich mir nach 4 Tagen Grossstadt-China nicht mehr so sicher. Meine Sinne und Gedanken sind förmlich überrollt worden von den Millionen von Menschen, die sich hier im grössten urbanen Zentrum der Welt wie Ameisen 24 Stunden pro Tag bewegen.
Im "I Ging" wird das menschliche Leben mit 8 verschiedenen Symbolen erfasst, indem sie miteinander zu 64 Doppelzeichen geordnet werden. Da alle dieser 64 Zeichen wiederum in eines der 64 Zeichen übergehen können, ergeben sich über 4000 mögliche Situationen, die abbildbar werden. Die ursprünglichen Verfasser des Buches glaubten, daraus die Gesamtheit aller Wandlungen oder Veränderungen der Welt darstellen zu können. Dabei geht der Makrokosmos zwischen Himmel und Erde Hand in Hand mit dem sozialem und psychologischen Wandel des menschlichen Mikrokosmos. Und so entwickelt sich ein komplexes Gebäude zwischen kosmologischer Orientierungen und menschlicher Beziehungen und Tätigkeiten, die ebenso als Inspiration für philosophische Betrachtungen wie auch für die Orakeltradition China's dient. 
Als zentraler Gedanke erscheint immer wieder die Überzeugung, dass Makro- und Mikrokosmos, d.h. der Kosmos und der Mensch, eng miteinander verknüpft sind. Die 64 Hexagramme dienen dazu, diese Beziehungen und die möglichen Veränderungen zu ordnen und zu verstehen. Umso besser diese Dynamik verstanden und respektiert wird, desto edler werden Gedanken und Leben des Weisen, desto einfacher wird es, das eigene Schicksal zu bestimmen oder andere zu beeinflussen. Den männlichen Yang-Zeichen Himmel, Berg, Donner und Wasser stehen die weiblichen Ying-Zeichen Erde, Feuer, Wind und See gegenüber. Aus diesen Elementen wird eine Welterklärung, eine Dynamik des Werden und Vergehens und eine numerische Ordnung zusammengestellt, die ihre Wirkungsgeschichte über Jahrtausende beibehalten hat. Was ist im heutigen China von dieser tiefverankerten Kultur übriggeblieben? Was haben die uniformierten, selten lächelnden, ständig in Bewegung bleibenden Millionen für dieses Erbe noch übrig? Zu kurz ist unser Aufenthalt in China, um nur ansatzweise Antworten darauf zu finden. Tatsache ist, dass ich von philosophischer Tiefe in dieser total urbanisierten Welt mit globalisiertem Anstrich und chinesischem Chauvinismus überhaupt nichts verspüre. Im Gegenteil, überall nur Tempo, Geld und Zeitmangel, die kaum Raum lassen für Phantasie, Poesie oder Kreativität. Trotzdem hat mir die Lektüre des "I Ging" eine Türe geöffnet, um den Urgrund chinesischer Kultur mindestens im Ansatz besser zu verstehen: Die Logik der Zeichen führt den Geist in eine andere Sprachdimension und so finde ich den Weg zu ein paar wenigen der ca. 60'000 chinesischen Schriftzeichen. Der 10-jährige León erklärt mir den Computerumgang mit dem Chinesisch und übersetzt die wichtigsten Zeichen. Die chinesische Bildersprache ist die Grundlage einer anderen Logik, einer anderen Wahrnehmung, eines für mich völlig neuen Denkens. Nach dem Schulbesuch bei León frage ich mich, wie das chinesische Drill-Bildungssystem mit diesen Zeichen die heutige Jugend in die Zukunft schickt. Ebenso frage ich mich, inwiefern sich kritisches Denken in dieser Sprachtradition entwickeln kann, oder wohin dieses politische System die Welt noch führen wird. Meine schöne, abstrakte Symbolwelt des "I Ging" ist jäh auf dem harten, total verkommerzialisierten Boden der globalisierten Produktionsmaschine Südchinas aufgeprallt.

Donnerstag, 28. April 2011

Menschenflut


Es nieselt warm in den Freitagmorgen hinein. Ich stehe mit Andy und Enya auf der Schulwiese der "Clifford Estates School" in Panyu, einem Stadtteil von Guangzhou, ca. 200 km nordwestlich von Hongkong. Die Wiese ist bedeckt mit über 1000 Primarschülern. Heute ist Besuchstag, bzw. eine Art Tag der offenen Tür, wo eine perfekte chinesische Schulshow für Eltern, Bekannte und Freunde über die Bühne schillert. Die Nationalhymne eröffnet eine Darbietung, die nichts auslässt: Die Kinder tanzen, singen, musizieren mit unglaublicher Präzision und Disziplin, wie wir es von den gigantischen Massenanlässen aus China kennen. Das einzelne Individuum ist durchgetrimmt und arbeitet minutiös für das Kollektiv, sodass der Einzelne unkenntlich wird und das Gesamtbild umso beeindruckender wirkt. Neben Drachenfiguren, den chinesischen Tierkreiszeichen und diversen Tanztheatern, beeindrucken uns vor allem die perfekten Kung Fu-Choreographien der Jungs. León, Andy's Sohn turnt an vorderster Front. Die nächtliche Nervosität ist ihm nicht mehr anzusehen und er wirkt konzentriert und frisch wie alle anderen auch. Nach 3 Stunden farbigem, perfekt aufgeführten Kinderspektakel wird noch einmal das Vaterland besungen, bevor sich das Publikum langsam auflöst und mit dem wieder einsetzenden Nieselregen davonzieht.
Wieder sind wir in einer für uns neuen Welt gelandet. Das mächtige China wirkt für uns vorerst nicht nur wegen den unverständlichen Schriftzeichen als enorme Herausforderung. Ein unglaubliches Tempo hat uns bereits in Hongkong überfordert und raubt uns noch jetzt die Kräfte. Alles scheint von einer unsichtbaren Hand angetrieben und wir werden mitgezogen, mitgetrieben und mitgefangen im Sog dieser unwiderstehlichen Macht. Überall sind Menschen, alles ist in Bewegung, kein Stehenbleiben, kein Innehalten, kein Nachdenken, immer nur vorwärts, kein Blick zurück. Zuerst in den Strassenschluchten von Hongkong und nun in der Grosswerkstatt der globalisierten Wirtschaft: Wir versinken in derjenigen Menschenflut, die zur neuen, alten Weltmacht geworden ist. Von Hongkong über die nach wie vor bestehende Grenze nach Shenzhen und dann weiter über Dongguan bis nach Guangszhou hat sich in den letzten 15 Jahren ein Ballungszentrum gebildet, das mit über 40 Millionen Einwohnern zu einem Bollwerk der Weltwirtschaft wurde. Der Wohlstand, der unheimliche Boom und die urbane Lebensweise vermitteln einen zwiespältigen Eindruck auf den Spuren von aufstrebendem Reichtum und der weltweiten Vernetzung der Industrie. Die ganze Welt hat hier in dieser gigantischen "Weltfabrik" ihren chinesischen Nährboden gefunden. Die Macht des Geldes ist so dominant, dass überall dessen Präsenz Überhand genommen hat. Qualität scheint ebenso nebensächlich wie kulturelle Werte irgendwo verloren oder einfach nicht erkennbar sind. 
Für schweizerische Verhältnisse ist alles irgendwie gigantisch: Bei Andy leben wir in einer Siedlung mit 35'000 Wohneinheiten, d.h. ein Quartier mit über 100'000 Einwohner, wo alles durchorganisiert ist vom Busnetz bis zur Sicherheitsgarde, von den Swimmingpools über Schulen bis zum High-Tech-Spital und dem Altersheim, und all dies im Besitz eines einzigen Unternehmers...! Auch wenn sich hier die Masse in der Gleichförmigekeit der Siedlungsarchitektur etwas auflöst, entfliehen wir hier nur vorübergehend der Menschenflut. Als wir heute im nebenanliegenden Park eine Velotour lancieren, sind die Velowege so überfüllt, dass wir stellenweise in regelrechten Velostaus steckenbleiben. Dass die Wahrnehmung von Menschenmassen aber relativ ist, erfahren wir vor einer öffentlichen Toilette des Parks,  wo Lia mit einem Chinesen aus Shenzen parliert. Er erklärt uns, dass es bei ihm zuhause viel zu viele Leute gibt und er deshalb jeweils am Wochenende hierher kommt, um sich erholen. 

Samstag, 23. April 2011

Yogainsel

  Als Kontrast zum Sog des hiesigen Fullmoon-Kultes tummelt sich ein zweites Publikum auf dieser Insel: Die Yogaszene. Eine in Thailand noch nie gesehene Dichte von Yogakursen, Retreats, Meditationsübungen und Heilpraktiken werden auf Hochglanzbrochüren oder zerknitterten Fresszetteln angeboten. Pinwände und Ladeneingänge sind vollgeklebt mit Erleuchtungs- und Heilsversprechungen aller Art. Parallel zur Fullmoon-Szene widerspiegelt dieser Yoga-Mikrokosmos ein weiteres Gesicht des westlichen Lifestyles im asiatischen Jahrmarkt der Selbstverwirklichung. Aus aller Welt kommen die Yogaübenden, vielen bleiben hier hängen oder kommen seit Jahren für ein paar Monate, um im Tropenwind die Spiritualität zu finden, die sie in ihrem Überdruss von Konsum und Stress zu Hause nicht mehr finden.
Mei mischt seit einer Woche am Rande dieser Szene mit. Der Berner Yogi Reinhard Gammenthaler wurde für zwei Wochen Intensivkurs eingeladen. Sein Publikum ist ebenso vielfältig, wie das Yoga-Angebot auf der Insel. Mei's Woche ist intensiv und sie wirkt von Tag zu Tag physisch und psychisch entspannter. Die harte, disziplinierte Yogapraxis aus der "Berner Mattenschule" erscheint viel bodenständiger als die abgehobene verschworene Tantraszene der "Agama" Yoga-Schule: Ein Yoga-Schlagwort, zwei ziemlich unterschiedliche Wege mit differierenden Ein-, Vor und Yogastellungen, die faszinieren oder befremden. Irgendwie kriege ich das Gefühl nicht los, dass ich einer der wenigen Ausländer auf dieser Insel bin, die weder Yoga noch Fullmoonparties praktizieren. Sogar die Mädchen engagieren sich im Kinderyoga mit ihrer neuen Freundin Neves, die sie am Strand getroffen haben. Auch das Yogapublikum ist globalisiert, normalerweise eher älter als die Party-Junkies aber ebenso geprägt von  hedonistisch-narzistischen Persönlichkeiten aus dem Westen. Als Insel-Szene-Markenzeichen ist mindestens ein Tattoo an exponierter Lage verlangt. Die meist gut geformten Körper verhüllen sich bei den Männern eher dürftig , währenddem die Frauen einen feenhaften Look zelebrieren, möglichst indisch, langrockig und langhaarig. Ein buntes Gemisch von Esoterik, Wahrheitssuche und Selbstverwirklichung hat sich hier zwischen Palmen, Sandstrand Dschungeldickicht eingenistet. Zufällig stossen wir auf diese bunte Menge während einem akkustischen Gitarrenkonzert im "Art Caffé". Zuerst spüren wir so etwas wie Kommunengeist dank lieblich fein angestimmten Beatles-Coverversionen. Da sich hier alle lieben, lächelt jeder, was er kann. Allerdings verspüre ich wenig Einfühlungsvermögen gegenüber Nicht-Eingeweihten. Kinder sind schon gar nicht erwünscht. So ernten wir mit den 3 Mädels glasige Blicke, als ob Kinder ein Vergehen gegen die spirituelle Selbstverwirklichung bedeute. Meine Kommunikationsversuche scheitern kläglich. Irgendwie läuft's mir kalt den Rücken runter ob so viel Liebes-Theater, nichts scheint natürlich, alles irgendwie wie im Film. Möglich, dass ich da einfach nicht mithalten kann, und ich diese feinstoffliche Ebene eher als absurdes Drama denn als spiritueller Weg wahrnehme.
Zum Abschluss der Yogaausbildung in der "Agama"-Yoga-Schule, werden in einem grossen Saal jeweils im Rahmen der "Final Ceremony" die Diplome vergeben. Erstmals dürfen auch die Kleinsten ihr Yogadiplom beim Guru Swami Vivekananda persönlich abholen. Mit Blumenkranz, Bindi-Punkt und Reisküchlein wird ihr Einsatz zeremoniell gewürdigt. Dann zeigen die Mädchen (Jungs sind dieses Mal keine dabei) ein kleine Probelektion und zum Erstaunen aller platziert sich auch Enya selbstbewusst auf der Matte vor dem Thron des Meisters. Obwohl alle Mädchen ihr bestes geben, stiehlt Enya natürlich allen die Show: Hochkonzentriert mit einer Engels-Mimik, die selbst Guru Swami Vivekananda erblassen lässt, zeigt sie ihren Sonnengruss würdevoll. Ein wahres Blitzlichtgewitter erfüllt die Halle und die sonst verbreitete Zurückhaltung gegenüber den Kindern löst sich langsam auf in Schmunzeln und Staunen: Die Kinder bleiben auf dem Boden und warnen vor der Verblendung auf dem Weg zu Erleuchtung.

Mittwoch, 20. April 2011

Auf dem Hund

  Friedlich gräbt sich Tessa in den noch kühlen Morgensand. Die Mädchen waren sich nicht gleich einig, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt. Also haben sie ihn Tessa getauft. Seid er Mei's Schoggi-Gipfeli erwischt hat, sitzt er jeden Morgen vor unserem Bungalow und erhofft sich eine Z'morgä-Überraschung. Er ist einer von den Hunderten von Strandhunden, die sich auf der Insel in herrenlosen Hunderudeln organisieren. Sie sind meist friedlich, konstant hungrig und neugierig und veranstalten vor allem nachts sowohl angeregte Bell-Konzerte wie auch blutige Rangkämpfe.
Das Hundegebell der streunenden Heimatlosen begleitet uns seit Beginn unserer Reise. Überall sind sie, ob Strand, Gebirge, Dschungel, Stadt oder Reisfelder: Überall spielen, jagen, schnüffeln und paaren sie sich. Die Hundedichte pro Kopf ist wohl in vielen asiatischen Staaten viel kleiner als in der Schweiz. Die Hundepräsenz im öffentlichen Raum ist aber durch ihre Obdachlosigkeit allgegenwärtig. Sie sind zum Streunen geboren und leben in halb verwilderten Rudeln. Wie bei allen Hunden und Wölfen, die in freier oder halb-freier Wildbahn leben pflegen sie ein äusserst interessantes Sozialleben. Dies äussert sich für den Hundelaien vor allem nachts, wenn "Stammesfehden" und "Diskussionsrunden" in lautem Gebell und Gejaule ausgetragen werden. Nicht selten kommt es zu groben Raufereien mit Verletzten, um die Territorien und Rangordnungen neu festzulegen. Die Methoden zur Geburtenkontrolle und die Überwachung von Krankheiten oder Beissunfällen unterscheiden sich von Land zu Land. Vielerorts werden ab und zu Sterilisationskampagnen durchgeführt. Dies kostet Geld und ist dem Staat oft zu teuer. So formieren sich ab und zu auch Tierschutzorganisationen oder Freiwilligen-Einsätze. 
Ein Spezialfall ist einmal mehr Bhutan: Die Hunde werden wegen dem buddhistischen Tötungsverbot nicht eingeschläfert, auch wenn sie sich in bedauernswertem Zustand durch die Strassen schleppen. In einzelnen Quartieren gibt es barmherzige "Hundepfleger", welche die Tiere füttern und verarzten. Vor allem in den grösseren Städten vermehren sich  die Strassenhunde völlig unkontrolliert. In Paro wurden vor einigen Jahren zwei unkonventionelle Methoden zur Eindämmung der explodierenden Hundepopulation ausprobiert: Zuerst wurden alle Hunde eingesammelt und in der Nacht in einen grossen Verschlag zusammengepfercht. Am zweiten Tag war es um die guten Absichten geschehen. Die Hunde kämpften bis der Pferch eingestampft war und die Hunde wieder ihre angestammten Reviere eingenommen hatten. Der zweite Versuch endete mit dem selben Ergebnis: Die Hunde wurden auf Lastwagen in einem entlegenem Tal 100 km entfernt im Wald ausgesetzt. Nach 3 Tagen waren die meisten wieder in der Stadt vor denselben Müllhaufen und Haustüren zu finden, die sie schon immer bewohnten.
Verglichen mit europäischen Zuchtambitionen, Gesetzen und Vermarktung der Hundehaltung mag diese Streunerei einen barbarischen Eindruck hinterlassen. Beobachte ich diese Hunde eindringlich, wie sie ihr Wolfsblut ausleben, bin ich jedoch überzeugt, dass sie die glücklicheren Tiere sind, auch wenn der Vergleich problematisch bleiben muss. Aggressivität gegenüber dem Menschen habe ich bisher noch nie erlebt. Einzig am Tag des Vollmondes war die Stimmung unter den Vierbeinern leicht angereizt. Beim Betrachten der Fullmoonparty-Besucher würde ich mich als Hund in diesen Tagen nicht anders verhalten: Knurren, Lefzen ziehen und höchste Alarmbereitschaft erstellen.

Montag, 18. April 2011

Full Moon

Die Hitze kehrt langsam auf die Insel zurück. Nach dem verheerenden Unwetter, das vor unserer Ankunft über Kho Phangan während Tagen tobte, ist wieder Ruhe in die weissstrandigen Buchten eingekehrt. Während der Sintflut sind hier alle abgereist und der Tourismus brach völlig zusammen, sodass wir im Windschatten des Sturms auf verlassene Strände und menschenleere Strassen stiessen.
Dank der meteorologischen Entspannung und dem Vollmond, der hier Magnet eines speziellen, inzwischen weltbekannten Massenevents ist, ist diese touristische Ruhe aber bereits wieder Vergangenheit. Jeden Monat füllt sich hier die Insel intervallartig im Puls des Mondes: The Fullmoon-Party. Da die Strandkapazitäten, wie auf allen Inseln hier, limitiert sind, wird inzwischen auch bei Halbmond und Leermond gefeiert. Dazu gibt es Moonset-Bars, Fullmoon-Taxis und Blackmoon-Cocktails. Pro Party tanzen hier über 20'000 mit Leucht-Bikinis, bemalten Körpern und zugedröhnten Hirnzellen bis sich der Mond ins Meer tauchend verabschiedet. 
Überall tönt es nach Fullmoon-Party. Da sind die Kinderfragen natürlich vorprogrammiert. Sogar Enya fragt schon nach, was denn dies bedeutet. Wir sind umgeben von diesem einem Publikum, das nachtaktiv, tendenziell vergnügungssüchtig und geprägt ist von einem narzistisch-hedonistischen Lebenstil westlicher Ausprägung. Lia's Fragen dazu sind hartnäckig und treffen den Nagel auf den Kopf. Was machen die während der Nacht, wenn sie nicht schlafen gehen? Warum sind die immer so müde? Wieso trinken die so viel Bier? Wieso bemalen sich die Erwachsenen? Das machen doch sonst nur die Kinder... Wieso fahren die so schnell mit dem Töff, die wissen doch auch, dass dies gefährlich ist?
Wieder einmal sind wir die Exoten, denn diese Fullmoon-Szene, geprägt von jugendlicher Euphorie, Südseeromantik und Sex, Drugs und Techno-Grooves rauscht an uns vorbei, wie eine surreale Parallelwelt. Wir sind dankbar, nicht mit schwindligen Kopf und übermüdetem Gliedern die Vollmondwirkungen ausleben zu müssen.
Die ganze Insel leidet schon genügend an diesem dekadenten Partytourismus: Kriminalität, Abfallberge, Drogenexzessen und reihenweise Töffunfälle haben aus dem friedlichen Inseldasein ein tragisches Abbild des jugendlichen Massentourismus geschaffen. Nicht selten stören Drogenrazzien, Überfälle und Streitereien die sonst so friedliche Salzluft und das Wedeln der Kokospalmen.
Wie so oft schon erfahren, ist auch dieses Paradies trügerisch. Einige Tage Hinterhof-Musik und schon verwandeln sich auch die hiesigen paradiesischen Fassaden wieder in Eingangstore menschlicher Abgründe. Als Unbeteiligter hüte ich mich vor Schwarzmalerei oder moralisierendem Getue, fühle mich viel mehr wohl als abseitsstehender Beobachter und versuche auf der Sonnenseite der Dinge zu bleiben. Dies gelingt nicht zuletzt immer wieder dank unseren Mädchen, die dank der Natürlichkeit des kindlichen Blickes sowohl gesellschaftliche Dekadenz und wie auch menschliche Schattenseiten unter den Sand schaufeln.

Samstag, 16. April 2011

I'm from here

  Von wo kommen wir? Wohin gehen wir? Was sollen wir tun? Ob in Bewegung oder während dem Stillstand, beim Reisen oder Zuhausebleiben, die 3 sich immer wieder stellenden Grundfragen des irdischen Intermezzos des Seins, inspirieren oder quälen die philosophische Neugier konstant. Durch das Unterwegs-Sein werden auch die Kinder schon früh konfrontiert vor allem mit der ersten Frage: Wo sind wir zu Hause, welche Sprache sprechen wir? Wieso sind wir in der Schweiz geboren worden und nicht in Bhutan? Die naive pragmatische Ebene der Kinder hat vorerst gar nichts mit kantianischem Abstraktionsniveau zu tun. Sie füllt aber existenzielle Grundgedanken mit jener unverdorbenen Fragelust, die am Ursprungs jedes Philosophierens stehen.
Es ist bereits dunkel und wir fahren mit dem Töff durch die Kokoshaine Kho Phangans. Enya plaudert in Hochform auf meinem Rücken im Tragrucksack drauflos: I'm from Bhutan. I'm from Bhutan. I'm from Bhutan! Als ich nachfrage, Enya where do you come from? antwortet sie nach kurzem Zögern: Switzerland. Nach kurzer Pause überlegt sie weiter und plötzlich wiederholt sie mehrmals: I'm from Bangkok. Ich bin sowohl gut unterhalten wie auch etwas ratlos gegenüber ihrer scheinbar zufälligen Plauderei. Ist dies nun ein übermütiges Abendgeplapper oder eine naive Suche nach dem Ursprung. Da "Identität" eines meiner Lieblingsthemen verkörpert, neige ich dazu, meine intellektuellen Vorlieben in die Kinderfragen und Bemerkungen hineinzuprojezieren. Ich hüte mich aber trotzdem, die äusserst unterhaltsamen Augenblicke mit Erklärungen zu entzaubern. Ansonsten würde ich dem so charmanten Geplauder den naiven Reiz aberkennen. Enya fährt aber begeistert fort mit ihrer Standortbestimmung und wechselt nun regelmässig zwischen Bhutan, Switzerland und Bangkok hin und her. Ich spiele mit und frage ab und zu wieder nach. Nach einer längeren Stille insistiert Enya plötzlich und sagt: "Papa, Papa, Papa.... I'm from here." Da verschlägt es mir beinahe die Sprache und ich staune nur noch vor mich hin, wie dieses Geplauder doch noch einen tiefgründigen Hintergrund offenbart. "I'm from here" ist nicht nur Beweis, wie Enya das Reisen bewusst verdaut, sondern auch ein Lehrstück kindlicher Wahrnehmung des Augenblicks. Schlussendlich ist das Hier und Jetzt so wichtig, das auch das Fragen nach unserer Herkunft im Moment versinkt. Es zeigt, wie anpassungsfähig Kinder sind und wie das Reisen zur Nebensache wird, wenn der Augenblick das Mass aller Dinge ist.
Was bei Enya der pure Moment ist, äussert sich bei Simea und Lia schon wesentlich anders. Die Referenzpunkte von Ländern, Sprachen und vor allem den Freunden werden klar eingeordnet und in Beziehung zum schweizerischen Zuhause gesetzt. So interessiert nicht nur der Moment, sondern unsere ganze Reisegeschichte, die immer länger wird und nach Verdauung und Ordnung verlangt. Als ein erlösender Fixpunkt von Zuhause wirkte neulich ein Telefongespräch mit Lia's ehemaliger und Simea's zukünftiger Kindergärtnerin. Beide waren sehr glücklich: Lia wegen dem direkten Gespräch mit ihrem Vorbild Frau Jenni und Simea wegen der Vorfreude auf das Spielen mit neuen Freunden.

Dienstag, 12. April 2011

Karma und Jigme

Jigme Trukpa spielt virtuos auf seiner kleinen Hirtenflöte , umgeben von 4 Musikern, in seiner seit 3 Monaten eröffneten Musikschule. Nach den himmlischen Klängen erklärt er uns, wie diese Melodie seit einigen Jahren alle nach Bhutan fliegenden Gäste in luftiger Höhe beim Anflug nach Paro begleitet. Tatsächlich erwacht in uns schnell die Erinnerung an die Wolkenfetzen und den frisch bezuckerten Hochebenen zwischen den Giganten des Himalayas.
Jigme Trukpas Flöten und Gitarren bilden einen einprägsamen Klangteppich bhutanesischer Eigenart. Zielstrebig und geduldig ist er seinem Lehrer und der langen musikalischen Tradition des Königreiches gefolgt, um heute als einer der bekanntesten Musikers Bhutans weit über die Landesgrenzen hinaus zu singen. Unser erstes Treffen wird gleich zu eine melodiösen Kulturbrücke mit seinem Flötensortiment und meinem Schwyzerörgeli. Wir spielen abwechslungsweise auf der kleinen Bühne im Konzertsääli für die ca. 20 Musikschüler, die zur Zeit die Schule besuchen. Die Örgeli-Klänge wirken zwar fremd für die Kinder, wechselt's jedoch vom Zuhören zum selber Ausprobieren, dann kippt die verhaltene Neugier rasch in ein begeistertes Chaos.
Für eine Woche bieten uns Karma und Jigme Haus und Musikschule in einem als Unterkunft an. Ihre Ruhe und die sanfte Bestimmtheit betten unseren Besuch in eine buddhistische Selbstverständlichkeit, die uns eine Lektion in bhutanesischer Gastfreundschaft vermittelt. Wir haben uns vor 3 Wochen erstmals gesehen und fühlen uns jetzt so, als ob wir schon jahrelange Freunde wären. Ihre Natürlichkeit, wie sie kommunizieren und handeln, ist keine Ausnahme in Bhutan. Nirgends haben wir eine Gesellschaft angetroffen, wo der buddhistische Lebenstil gegenüber uns Fremden so authentisch gelebt wird. Deshalb zeigt uns Bhutan nicht nur die ausgeprägte Gastfreundschaft sondern auch die Möglichkeit des "Anders-Seins", die Möglichkeiten in einer Gesellschaft, wo ein unterschiedliches Selbstverständnis gegenüber den indischen und chinesischen Nachbarn überlebt hat. Und ebenso zeigt die spezielle soziale Dynamik, dass Alternativen zur westlichen, liberal-individualistisch geprägten Globalisierungmoral eine Chance haben müssen.
Yangtsenma, die jüngere Tochter feiert diese Woche ihren 9. Geburtstag. Normalerweise wird nicht viel Aufhebens an Geburtstagen veranstaltet. Das Individuum bleibt irgendwie immer hinter dem Kollektiv zurück. So wird bei der Taufe nicht bewusst ein Namen ausgewählt, sondern von einem Mönchen, wenn möglich einem höheren Lama, ausgelost. Der Macht des Schicksals gehört das Vertrauen in der Namensgebung. Eben dieses Schicksal meint es gut mit Yangtsenma: Sie kriegt endlich ein richtiges Fahrrad und dazu gibt es erst noch einen richtigen Geburtstagskuchen. Namen-oder Geburtstagskult hin oder her, die rahmverschmierten Kindermäuler sprechen alle dieselbe Sprache.
Karma und Jigme stammen aus dem Osten des Landes aus sehr einfachen Bauerndörfern. Schon lange leben sie in der Hauptstadt. Ihr Stolz, ihre Herzen und ihre Wurzeln nähren sich aber immer noch in ihren Bergen. Vielleicht sind eben diese Berge einer der Hauptgründe, wieso sich ihre bhutanesische Identität nicht so schnell verändern lässt. Da hätten wir wieder eine Parallele zum Schweizerischen Bergler-Geist gefunden. Auch wenn sich dieser heute eher mit Ab- und Ausgrenzungs-Parolen der SVP verbündet als die Stärkung der eigenen Identität fördert, werden die Berge ihre integrative Kraft kultureller Eigenart nicht verlieren. 
Mit dem tibetisch-bhutanesischen Klassiker "The Black-Necked Crane" schliesst Jigme Trukpa sein Konzert ab. Der "Schwarzhals-Kranich" gilt als einer der meist bedrohten Spezies in der himalayschen Luft und dient mit seiner lebenslangen Treue einer bedeutenden Symbolik. Seine alljährliche Reise von Bhutan nach Tibet und wieder zurück wird schon seit Jahrhunderten besungen. Seine majestätischen Flügelschläge stehen ebenso für Ausdauer, Beharrlichkeit und Geduld, wie auch für Treue, Romantik und Liebe. Jigme verabschiedet sich mit seinen Musikern, lächelt verschmitzt und ich glaube, seine Gedanken lesen zu können: "Macht es wie die Black-Necked-Cranes und kommt wieder zurück nach Bhutan."

Sonntag, 10. April 2011

Highland Girl

Laya entspricht einem typischen Bergdorf im Himalaya, umgeben von Berggiganten, geprägt vom harten Leben im Gebirge, belebt von einem eigenständigen und hartköpfigen Bergvolk, den Laya-Nomaden. Laya ist der Hauptdrehort des neu erschienenen bhutanesischen Spielfilms "The Highland Girl". Voller Emotionen blicke ich mit den 300 geladenen Gästen auf die riesige Leinwand des Thorwa-Theaters in Thimpu. Ich sitze auf der Ehrentribune direkt hinter Königsfamilie und Ministern. Der Film erzählt die Liebesgeschichte eines Paars, das durch Hinterlist getrennt wird, indem das Mädchen in die Grossstadt gelockt wird. Die anfängliche Faszination der Hauptstadt wird bald zum Albtraum und so verläuft die Geschichte tragisch, bis sie schliesslich doch noch in einem Happy-End mündet, natürlich auf den Weiden des wildromantischen Tales der "Layas".
Zur Eröffnung  des Fonds für "Human Wildlife Conflict Management" ist eine bunte Schar von Staatsangestellten, NGO's, Medienleuten und einigen wenigen ausländischen Gästen zusammengekommen. Was für diesen Fond den Startschuss bedeutet, steht als symbolischen Schlusspunkt für unseren Know-how-Exchange der vergangenen Wochen. Das Thema hat hier einen weit grösseren "Impact" als bei uns, da die 60 % der Bevölkerung, die ausschliesslich von der Landwirtschaft leben, fast alle irgendwie davon betroffen sind. Entsprechend gross ist das Interesse am heutigen Anlass. Für mich ist es eine gute Gelegenheit, viele Leute, die ich getroffen habe, noch einmal zu sehen. Innerhalb von einem Monat, bin ich in rasantem Tempo in die bhutanesische Eigenarten eingetaucht. Vielleicht sind deshalb die 2 1/2 Stunden Herzschmerz der Liebesgeschichte aus Laya so schnell vorbei. Vielleicht vermisse ich auch deswegen die Untertitel nicht, da mir die Leute, das Land und die Kultur inzwischen so vertraut sind, dass Vieles ohne Worte verständlich erscheint.
Will Bhutan seine ehrgeizige Strategie zu Eindämmung der Wildtierschäden in der Landwirtschaft umsetzen, braucht es in den nächsten Jahren Ressourcen, die momentan fehlen. Deshalb ist der Zeitpunkt optimal gewählt, eine grossangelegte Geldsuche zu starten. Nur Zufall war deshalb mein Besuch nicht, da das Anliegen besonders auch dem zuständigen Minister, einem ehemaligen Hirtenbub, am Herzen liegt. 
Der sozialpolitische Hintergrund der Leinwandgeschichte steht ganz im Zeichen der heutigen Stadt-Land-Dynamik Bhutans. Die Entvölkerung der sonst schon wenig besiedelten, entlegenen Gebiete schreitet voran, trotz staatlicher Massnahmen, die dagegen wirken sollen. Deshalb stehen schon neu errichtete Schulhäuser in den überalterten Dörfern fast leer und   Thimpu erlebt einen beispiellosen Wachstumsschub. Der Druck der Wildtiere auf die verbliebenen landwirtwirtschaftlichen Flächen hat schon manchen Bauern zum Nachdenken nach alternativen Einkommensquellen inspiriert. Aus diesem Grund spielt das "Wildlife Conflict Management" eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Landflucht. Gelingt es, griffige Schutzmassnahmen gezielt und möglichst billig umzusetzen, könnte vielleicht die Tendenz der Abwanderung gebremst werden.
Inzwischen ist es dunkel geworden und wir sind der Einladung zum Nachtessen mit den Gästen der Fond-Eröffnungsfeier gefolgt. Die Mädchen und Mei sitzen herausgeputzt in der Kira ringsum ein Lagerfeuer, das uns wärmt und die Tanzgruppe im Hintergrund feurig beleuchtet. Eine schönere Abschlussfeier unseres Aufenthaltes hier hätten wir uns nicht vorstellen können. Dankbar und glücklich geben wir uns der Musik hin, schwatzen, trinken und essen mit den immer munter werdenden Bhutanern in die Nacht hinein.

Freitag, 8. April 2011

GNH Part II

Gibt es eine perfekte Kulturdiktatur? Ist Glück eine Angelegenheit des Staates? Kommen Philosophenkönige wieder einmal in Mode? Gibt es erfolgreiche Alternativen zum liberaldemokratischen Staatsmodell? Wohin wächst die junge, bhutanesische Demokratie?
Von allen Seiten wird Bhutan immer wieder gelobt, als Kleinstaat zwischen den zwei Giganten Indien und China auf wunderbare Weise Kultur und Natur geschickt zu erhalten: Ein Land, wo Tabakkonsum und Plastiksäcke verboten sind, wo Chili als Gemüse gegessen wird und wo Kleidungspflicht und Architekturdoktrin eine kulturelle Einheit schaffen, die seinsesgleichen wohl weltweit sucht. Nur dank einer geschickten und weitsichtigen Politik der Monarchen erscheint Bhutan heute als ein kleines Wunder im globalisierten Einheitsbrei von Kultur, 
Wirtschaft und Politik. Hätte sich dieses Land als Demokratie auch so erhalten? Wohl kaum, wage ich zu behaupten. Bereits im 19. Jahrhundert hat der politische Reisephilosoph Alexis de Tocqueville vor den gleichmachenden Tendenzen der Demokratie gewarnt. Eine liberal-egalitäre Gesellschaft birgt die Gefahr einer Uniformisierung von Werten und Ideen, obwohl sie Freiheit und Gerechtigkeit als Fundamente eines aufgeklärten und humanistischen Staatsideals erst ermöglicht.
Beim bhutanesischen Feierabendbier höre ich es mehr als einmal: "I don't like democracy". 2008 wurde erstmals ein Parlament gewählt. Die ersten Regionalwahlen sind auf den nächsten Monat angesetzt. Die Vorbereitungen dazu laufen auf Hochtouren. Eine gewisse Skepsis gegenüber dieser raschen Demokratisierung ist verständlich. Hat doch die bhutanesische Monarchie während ihrem über 100-jährigen Bestehen dank cleveren und weitsichtigen Königen Glück gehabt. Statt Tyrannei oder sinnlose Anhäufung von Reichtümern, hat sich ein buddhistischer Kulturstaat entwickelt, der Religion, Kunst und Natur über die wirtschaftlichen Wohlstandsindikatoren gestellt hat. Dies hat schliesslich zum "GNH"-Gedanken geführt, mit dem heute für die bhutanesische Staatsphilosophie geworben wird.
Ein Kleinstaat, umgeben von hohem Gebirge, würde noch heute Idealvoraussetzungen für gesellschaftliche Experimente mitbringen, wäre da nicht die Macht der globalen Vernetzung und die geopolitische "Sandwichsituation" zwischen Indien und China. China kontrolliert die nördliche Grenze mit Gewalt und hat als Machtdemonstration vor einigen Jahren 9000 km2 annektiert, indem sie eine Strasse in die höchstgelegene Region baute. Seither figurieren in den Landesstatistiken immer wieder 2 Landesflächen: Vorher 47'000 km2, nachher 38'000km2. Bhutan kann gegenüber solchen Machenschaften nur ohnmächtig zuschauen. Auf der südlichen Flanke strömen die Inder ins Land, die Bhutan, quasi als grosser Bruder, gut gesinnt sind, jedoch eine enorme Abhängikeit geschaffen haben. Sämtliche Wasserkraftprojekte und der ganze Bausektor werden von indischer Hand gelenkt und geprägt.
Die staatspolitischen Ideen des Himalaya-Zwerges verleiteten schon viele Reden zu romantischen oder gar euphorischen Worten zum buddhistischen Kulturstaat. Die realpolitischen Kräfteverhältnisse holen aber jede Träumerei wieder auf den Boden. Vielleicht deshalb hat der jetzige 31-jährige König die wirtschaftliche Entwicklung seit 2008 in den Vordergrund gerückt. Bleibt zu hoffen, dass damit die Eigenart und der buddhistische Lebenstil nicht aus den bhutanesischen Köpfen verdrängt wird.

Mittwoch, 6. April 2011

Buddha und der liebe Gott

  Er gilt als der schönste Dzong Bhutans und liegt majestätisch zwischen zwei türkisblau leuchtenden Flüssen, die von mächtigen Gletschern aus dem tibetischen Grenzgebiet gespiesen werden. In allen Dzongs treffen sich Staat und Religion in einer beeindruckenden Architektur. Je nach Ort, scheint die Stimmung von den Mönchen oder von den Staatsangestellten stärker geprägt zu werden. Hier in Punakha übertönen die weinroten Mönchsgewänder und der Mantra-Gesang jegliche weltliche Aktivitäten.
Was für uns Erwachsene kulturelle und spirituelle Weiterbildung bedeutet, ist für die Kinder oft ein langweiliges Schwatzen und Umherlaufen. Vor allem Simea hat mit Klöstern nur wenig am Hut. Inzwischen haben wir mindestens zeitweise einen gemeinsamen Nenner gefunden, um die Interessenkonflikt zwischen jung und alt zu besänftigen: 
Der buthanesische Buddhismus ist ein komplexes Gebilde von Symbolen und Geschichten. Neben Buddha werden auch Guru Rinpoche und Zhabdrung Ngawang Namgyal verehrt. Dazu kommen Bodhisattvas, Rinpoches und Götter, die nicht selten an die indische Göttervielfalt erinnern. Während Guru Rinpoche im 8. Jh. den Buddhismus von Tibet nach Bhutan brachte, indem er verschiedenste Dämonen besiegte, hat Zhabdrung Ngawan Namgyal Bhutan 1639 geeinigt und die tibetischen Machtansprüche begraben. Diese Geschichte wird intensiv gewürdigt. So ruht im Dzong von Punakha die meist behütete Reliquie Bhutans: Eine kleine Statue des Bodhisattvas Chenresig, die aus einem Rückenwirbel des Grossvaters von Zhabdrung geschnitzt worden sei. Nur einmal im Jahr wird die Kostbarkeit dem Volk gezeigt. Ansonsten ruht sie in einem turmartigen Teil des Dzongs, der nur vom König, seinem Vater und dem Vorsteher des Klosters betreten werden darf.
Mit einer unerschöpflichen Sammlung von Geschichten wird das Kulturreisen selbst für Simea erträglich. Mei hat eine ausgeklügelte Technik entwickelt, historische und mythologische Geschichten kindergerecht aufzubereiten. Deshalb ist für Simea nun Guru Rinpoche wichtiger als das Rotkäppchen oder das Schneewittchen. Sie erfindet Geschichten, malt und träumt sogar von ihm. 
Während sich Simea in der Bilder- und Geschichtenwelt befindet, bewegt sich Lia viel mehr auf der philosphischen Schiene und versucht östliche und westliche Weltbilder miteinander zu vereinen. Denn der liebe Gott steht schliesslich ja auch noch hinter dem Buddha, obwohl wir seit längerem auf Bibelgeschichten verzichten. Dank den Kinderfragen wird uns immer wieder bewusst, wie einfach Religion gestaltbar ist und wie zerbrechlich Glaube und Spiritualität durch die kritische Vernunft werden. Die Empfänglichkeit und Neugier der Kinder erinnert an unsere Verantwortung, der wir nicht vertuschen wollen. Sowohl Buddha wie auch der liebe Gott sollen den Kindern zugänglich gemacht werden. Die Geschichtenwelt Bhutans eignet sich wegen ihrer Geschichtenvielfalt ausgezeichnet. Auch wenn sich der liebe Gott hier versteckt, wacht er für Lia im Hintergrund als Schöpfergott und ebenbürtiger Partner Buddhas.

Montag, 4. April 2011

Tierisch

  "Empfehlen Sie uns, dass wir nun die Tiere abschiessen sollen?" fragt mich ein Mitarbeiter des Landwirtschaftministeriums am Ende meines Vortrages zum Thema "Wildlife Conflict Management" in der Schweiz. Ein scheues Raunen geht durch die versammelte Runde. Gespannte Blicke fordern mich heraus. Ich bin nach den vergangenen zwei Wochen mit Besuchen bei Bauern, Wildhütern und Parkwächtern bestens für eine offene Antwort gerüstet.
Auf der Reise von Trongsa nach Thimpu durchqueren wir ein Gebiet mit nahezu alpinen Weiden so um die 3200 Metern über Meer. Allerdings sind die offenen Flächen mit einer Art Zwergbambus durchsetzt und die Weiden umgeben von ausgedehnten Nadelwäldern. Trotz der unterschiedlichen Vegetation gegenüber unseren Alpweiden, kommt beim Betrachten der gemütlich kauenden Yaks so etwas wie Vorfreude auf den bevorstehenden Sommer auf. Auch hier machen sich die Yakbauern in einem Monat auf, um in die höhergelegenen Sömmerungsgebiete zu ziehen. Die Halbnomaden zügeln jeweils mit dem ganzen Dorf in die Höhe. Nur die Ältesten und die Kinder bleiben zurück. 
Beim Nippen am salzigen Buttertee erzählen Vater und Sohn von ihrer Herde, den Leoparden, den Tigern und dem Sommerquartier. Die Yaks sind sehr anspruchslose und pflegeleichte Tiere. Die tiefe Produktivität stört die Bauern nur wenig, obwohl sie nicht mehr aus dem Staunen herauskommen, als ich von Ziegen erzähle, die 8 Liter Milch pro Tag geben können. Die hiesige Yakhaltung hat irgendwie etwas Folkloristisches, fliesst doch das Haupteinkommen der Yakhirten aus dem Sammeln des heiss begehrten "Cordyceps", auch als Chinesischer Raupenpilz bekannt. Die Yaks leben mehr von ihrer symbolischen Ausstrahlung, als von ihrem produktiven Beitrag für den Lebensunterhalt. Sie prägen aber nach wie vor das Leben der teilweise sesshaft gewordenen Nomaden im Hochland. 
Während unserer Reisewoche in Zentralbhutan sind wir wenigen Schafen, vereinzelten Ziegen, viel lokalem Rindergemisch und sowohl Brown Swiss wie auch Jersey-Kühen begegnet. Ziegen werden oft nur als Glücks- oder Schutztiere gehalten. Schafe bleiben Ausnahmeerscheinungen und das magere Rindvieh macht in den meisten Fällen einen eher verwilderten Eindruck.  Völlig andere Konsum- und Produktionsgewohnheiten als in unserer modernen Landwirtschaft erklären den eigenständigen Bezug zu Tieren. Auch bei der Nutztierhaltung ist der buddhistische Hintergrund prägend. So werden die Tiere nicht geschlachtet, sondern eher geopfert oder manchmal sogar der Natur überlassen, vielleicht zum Schmaus eines Schneeleoparden oder einer Bärenfamilie. Da das Töten eine schwere Sünde bedeutet, haben die Bhutanesen dieses Übel exportiert. Meistens übernehmen muslimische Inder das blutige Handwerk. Trotz dieser Strategie sehe ich immer wieder getrocknetes Yakfleisch an Leinen aufgehängt oder auf dem Boden ausgebreitet. Diese Tiere können doch nicht alle aufgrund eines natürlichen Todes gestorben sein! Nach hartnäckigen Recherchen erfahre ich denn auch an einigen Orten, dass es Ausnahmen gibt und Tiere für den eigenen Verzehr geschlachtet werden.
Der mittlere Weg des bhutanesischen Buddhismus lässt immer wieder Kompromisse zu und so wage ich denn auch die Diskussion unter den Kollegen aus Landwirtschaft und Umwelt zu lancieren, inwiefern kontrollierte Abschüsse von Wildsauen eine Lösung bei Konflikten sein könnten. Auf die oben gestellten Frage antworte ich jedoch mit zurückhaltender Vorsicht. Als jagdgewohnter Europäer kann ich nur vergleichen, wie wir Konflikte wahrnehmen, austragen und versuchen zu lösen. Der preventive Abschuss bei uns basiert eigentlich auf einer Rechtfertigung, die dem Buddhismus entspringen könnte:  Schaden verhindern bedeutet Leiden verringern. Nie würde ich jedoch eine "licence to kill" ausstellen, in einer Gesellschaft, die durch das Verbot des Tötens einen Respekt gegenüber den Tieren geschaffen hat, von dem wir eigentlich nur lernen können.