Donnerstag, 28. April 2011

Menschenflut


Es nieselt warm in den Freitagmorgen hinein. Ich stehe mit Andy und Enya auf der Schulwiese der "Clifford Estates School" in Panyu, einem Stadtteil von Guangzhou, ca. 200 km nordwestlich von Hongkong. Die Wiese ist bedeckt mit über 1000 Primarschülern. Heute ist Besuchstag, bzw. eine Art Tag der offenen Tür, wo eine perfekte chinesische Schulshow für Eltern, Bekannte und Freunde über die Bühne schillert. Die Nationalhymne eröffnet eine Darbietung, die nichts auslässt: Die Kinder tanzen, singen, musizieren mit unglaublicher Präzision und Disziplin, wie wir es von den gigantischen Massenanlässen aus China kennen. Das einzelne Individuum ist durchgetrimmt und arbeitet minutiös für das Kollektiv, sodass der Einzelne unkenntlich wird und das Gesamtbild umso beeindruckender wirkt. Neben Drachenfiguren, den chinesischen Tierkreiszeichen und diversen Tanztheatern, beeindrucken uns vor allem die perfekten Kung Fu-Choreographien der Jungs. León, Andy's Sohn turnt an vorderster Front. Die nächtliche Nervosität ist ihm nicht mehr anzusehen und er wirkt konzentriert und frisch wie alle anderen auch. Nach 3 Stunden farbigem, perfekt aufgeführten Kinderspektakel wird noch einmal das Vaterland besungen, bevor sich das Publikum langsam auflöst und mit dem wieder einsetzenden Nieselregen davonzieht.
Wieder sind wir in einer für uns neuen Welt gelandet. Das mächtige China wirkt für uns vorerst nicht nur wegen den unverständlichen Schriftzeichen als enorme Herausforderung. Ein unglaubliches Tempo hat uns bereits in Hongkong überfordert und raubt uns noch jetzt die Kräfte. Alles scheint von einer unsichtbaren Hand angetrieben und wir werden mitgezogen, mitgetrieben und mitgefangen im Sog dieser unwiderstehlichen Macht. Überall sind Menschen, alles ist in Bewegung, kein Stehenbleiben, kein Innehalten, kein Nachdenken, immer nur vorwärts, kein Blick zurück. Zuerst in den Strassenschluchten von Hongkong und nun in der Grosswerkstatt der globalisierten Wirtschaft: Wir versinken in derjenigen Menschenflut, die zur neuen, alten Weltmacht geworden ist. Von Hongkong über die nach wie vor bestehende Grenze nach Shenzhen und dann weiter über Dongguan bis nach Guangszhou hat sich in den letzten 15 Jahren ein Ballungszentrum gebildet, das mit über 40 Millionen Einwohnern zu einem Bollwerk der Weltwirtschaft wurde. Der Wohlstand, der unheimliche Boom und die urbane Lebensweise vermitteln einen zwiespältigen Eindruck auf den Spuren von aufstrebendem Reichtum und der weltweiten Vernetzung der Industrie. Die ganze Welt hat hier in dieser gigantischen "Weltfabrik" ihren chinesischen Nährboden gefunden. Die Macht des Geldes ist so dominant, dass überall dessen Präsenz Überhand genommen hat. Qualität scheint ebenso nebensächlich wie kulturelle Werte irgendwo verloren oder einfach nicht erkennbar sind. 
Für schweizerische Verhältnisse ist alles irgendwie gigantisch: Bei Andy leben wir in einer Siedlung mit 35'000 Wohneinheiten, d.h. ein Quartier mit über 100'000 Einwohner, wo alles durchorganisiert ist vom Busnetz bis zur Sicherheitsgarde, von den Swimmingpools über Schulen bis zum High-Tech-Spital und dem Altersheim, und all dies im Besitz eines einzigen Unternehmers...! Auch wenn sich hier die Masse in der Gleichförmigekeit der Siedlungsarchitektur etwas auflöst, entfliehen wir hier nur vorübergehend der Menschenflut. Als wir heute im nebenanliegenden Park eine Velotour lancieren, sind die Velowege so überfüllt, dass wir stellenweise in regelrechten Velostaus steckenbleiben. Dass die Wahrnehmung von Menschenmassen aber relativ ist, erfahren wir vor einer öffentlichen Toilette des Parks,  wo Lia mit einem Chinesen aus Shenzen parliert. Er erklärt uns, dass es bei ihm zuhause viel zu viele Leute gibt und er deshalb jeweils am Wochenende hierher kommt, um sich erholen.