Samstag, 30. April 2011

I Ging

 Seit Wochen widme ich mich der Lektüre des Buchs der Wandlungen, dem "I Ging". In ihm verbirgt sich ein Schatz von chinesischer Lebensweisheit, die während über 3 Jahrtausenden von unzähligen Gelehrten überarbeitet, kommentiert und weiterentwickelt wurde. Das Buch legte die Grundlage für die zwei wichtigsten philosophischen Strömungen China's durch die 2 vergangenen Jahrtausende, den Taoismus und den Konfuzianismus. Konfuzius war es denn auch, der dem Buch der Wandlungen mit Kommentaren und Interpretationen seine massgebliche Prägung aufsetzte, die noch heute die chinesische Kultur nährt. Ob dieses sowohl rätselhafte wie auch tiefgründige Buch der Weltliteratur eine geeignete Lektüre für den Chinareisenden ist, bin ich mir nach 4 Tagen Grossstadt-China nicht mehr so sicher. Meine Sinne und Gedanken sind förmlich überrollt worden von den Millionen von Menschen, die sich hier im grössten urbanen Zentrum der Welt wie Ameisen 24 Stunden pro Tag bewegen.
Im "I Ging" wird das menschliche Leben mit 8 verschiedenen Symbolen erfasst, indem sie miteinander zu 64 Doppelzeichen geordnet werden. Da alle dieser 64 Zeichen wiederum in eines der 64 Zeichen übergehen können, ergeben sich über 4000 mögliche Situationen, die abbildbar werden. Die ursprünglichen Verfasser des Buches glaubten, daraus die Gesamtheit aller Wandlungen oder Veränderungen der Welt darstellen zu können. Dabei geht der Makrokosmos zwischen Himmel und Erde Hand in Hand mit dem sozialem und psychologischen Wandel des menschlichen Mikrokosmos. Und so entwickelt sich ein komplexes Gebäude zwischen kosmologischer Orientierungen und menschlicher Beziehungen und Tätigkeiten, die ebenso als Inspiration für philosophische Betrachtungen wie auch für die Orakeltradition China's dient. 
Als zentraler Gedanke erscheint immer wieder die Überzeugung, dass Makro- und Mikrokosmos, d.h. der Kosmos und der Mensch, eng miteinander verknüpft sind. Die 64 Hexagramme dienen dazu, diese Beziehungen und die möglichen Veränderungen zu ordnen und zu verstehen. Umso besser diese Dynamik verstanden und respektiert wird, desto edler werden Gedanken und Leben des Weisen, desto einfacher wird es, das eigene Schicksal zu bestimmen oder andere zu beeinflussen. Den männlichen Yang-Zeichen Himmel, Berg, Donner und Wasser stehen die weiblichen Ying-Zeichen Erde, Feuer, Wind und See gegenüber. Aus diesen Elementen wird eine Welterklärung, eine Dynamik des Werden und Vergehens und eine numerische Ordnung zusammengestellt, die ihre Wirkungsgeschichte über Jahrtausende beibehalten hat. Was ist im heutigen China von dieser tiefverankerten Kultur übriggeblieben? Was haben die uniformierten, selten lächelnden, ständig in Bewegung bleibenden Millionen für dieses Erbe noch übrig? Zu kurz ist unser Aufenthalt in China, um nur ansatzweise Antworten darauf zu finden. Tatsache ist, dass ich von philosophischer Tiefe in dieser total urbanisierten Welt mit globalisiertem Anstrich und chinesischem Chauvinismus überhaupt nichts verspüre. Im Gegenteil, überall nur Tempo, Geld und Zeitmangel, die kaum Raum lassen für Phantasie, Poesie oder Kreativität. Trotzdem hat mir die Lektüre des "I Ging" eine Türe geöffnet, um den Urgrund chinesischer Kultur mindestens im Ansatz besser zu verstehen: Die Logik der Zeichen führt den Geist in eine andere Sprachdimension und so finde ich den Weg zu ein paar wenigen der ca. 60'000 chinesischen Schriftzeichen. Der 10-jährige León erklärt mir den Computerumgang mit dem Chinesisch und übersetzt die wichtigsten Zeichen. Die chinesische Bildersprache ist die Grundlage einer anderen Logik, einer anderen Wahrnehmung, eines für mich völlig neuen Denkens. Nach dem Schulbesuch bei León frage ich mich, wie das chinesische Drill-Bildungssystem mit diesen Zeichen die heutige Jugend in die Zukunft schickt. Ebenso frage ich mich, inwiefern sich kritisches Denken in dieser Sprachtradition entwickeln kann, oder wohin dieses politische System die Welt noch führen wird. Meine schöne, abstrakte Symbolwelt des "I Ging" ist jäh auf dem harten, total verkommerzialisierten Boden der globalisierten Produktionsmaschine Südchinas aufgeprallt.