Donnerstag, 31. März 2011

Spuren

2010 war das Jahr des Tigers, der in vielen Gebieten so selten geworden, dass er inzwischen zu den bestgeschützten Tieren weltweit gehört. Das Überleben dieses beeindruckenden Räubers ist deswegen noch keineswegs gesichert, ausser vielleicht in Bhutan.
Ich bin im Büro der lokalen "Forestry Field Division" und schaue mir mit Kinley dem hiesigen Chef-Ranger die letzten Tigeraufnahmen an. Im letzten Oktober wurden oberhalb Trongsa auf einem langgezogenen Gratpfad 42 Fotofallen aufgestellt. Das Resultat war eine spektakuläre Photoserie, die wohl seinesgleichen weltweit sucht. Aus über 2015 verschiedene Tigerphotos konnten mindestens 3 verschiedene Individuen identifiziert werden. Da zusätzlich anhand von Spuren noch 2 Jungtiere festgestellt wurden, wird vermutet, dass es sich hier um eine einzigartige Tigerdichte handelt, die bisher noch nie so nachgewiesen werden konnte. 
Wir machen uns auf den Weg Richtung "Tiger-Range". Die lehmige Strasse ist glitschig, da es die ganze nacht unaufhörlich geregnet hat, der erste ausgiebige Regen seit Monaten. Entlang der kurvigen Bergstrasse lächelt uns ein glücklicher Mischwald entgegen, wo Magnolien und Rododendren rot und weiss in den wolkenverhangenen Himmel leuchten. Kinley wirkt ruhig und überlegt in seinen Ausführungen. Etwas stolz und zugleich fasziniert über sein Tigerland berichtet er, wie sie im letzten Jahr auf den Farmen regelmässig Vieh verloren. Schliesslich erreichen wir nach ein paar weiteren Rutschpartien unser Ziel: Semgbji - ein Bauerndorf auf 2400 Metern, durch eine Strasse erreichbar seit 2006, mit erstmals gewähltem Gemeindepräsidenten 2008 und am Stromnetz  angeschlossen seit 3 Monaten.
Der Dorfsprecher empfängt uns zusammen mit zwei Bauern, die erst kürzlich zwei Kühe  durch Tigerangriffe verloren. Lendhup führt uns in sein neues Bauernhaus, das gerade erst bewohnbar gemacht wurde. Wir setzen uns auf die Strohmatten und lancieren die Diskussion. Ruhig mit Sanftmut und mit entschlossener Bodenständigkeit erzählen die Bauern von ihren Tigererlebnissen. Von Wachfeuern, Tigerverfolgungen, frischen Spuren und toten Kühen wird ebenso berichtet wie von Entschädigungen, Versicherungen und den schwierigen Produktionsbedingungen. Schutzhunde, Zäune oder Wachposten stehen auf verlorenem Posten vor dem fast allmächtigen König des Dschungels. Er ist bei weitem nicht alleine im teils lichten, teils dichten Gebirgswald: Der Himalaya-Schwarzbär kreuzt hier seine Wege ebenso mit den Leoparden wie mit den Wildhunderudeln. Weiter hinten im Tal streicht dann auch der Schneeleopard herum, der die Richtung angibt zum sagenumwobenen Gebiet des "Snowman", bei uns bekannt als Yeti.
Trotz den Sorgen und einer gewissen Ohnmacht der hiesigen Bauern, die mich in die schweizerische Wolfsgeschichten zurückversetzen, ist die Stimmung aufgelockert und sehr freundlich. Gegen Ende der Diskussion äussern die Dorfbewohner zusehends den Respekt und die Achtung, die sie gegenüber den Tigern pflegen. Der Tiger wird hier selten beim Namen genannt, sondern wie ein Würdenträger behandelt. Sie bezeichnen ihn mit Mifam, was sonst nur ehrwürdigen Personen als Titel gebührt. Ihre buddhistische Überzeugung und die grosse Symbolik, welche die königlichen Grosskatzen ausstrahlen, lässen das ständig latente Risiko mit bewundernswerter Gelassenheit fast verschwinden. Dies ist wohl die überzeugendste Erklärung, warum hier die Tiger ein weltweit einzigartiges Refugium vorfinden, wo sich die Bescheidenheit des Menschen in der grandiosen Macht der Natur verliert. 

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