Mittwoch, 12. Januar 2011

Vertrautheit

Der ständige Ortswechsel verlangt von jedem Reisenden eine gewisse Flexibilität, die entweder von Neugier und Entdeckungsdrang oder Ruhelosigkeit und Sehnsüchten versorgt wird. Die Kinder reagieren mit einer beeindruckenden Natürlichkeit auf diese Dynamik. Während sich der erwachsene Reisegeist oft mit Gedanken zu neuen Plänen und Zielen beschäftigt, lebt die Kinderwelt ständig im Sog des Augenblicks. Es ist genau diese Sorglosigkeit, die wir brauchen, um den Lauf der Dinge im Alltag so rollen zu lassen, dass wir zielstrebiges Planen und europäisches Effizienzdenken über Bord werfen können.
Mei und ich benötigen mehr Zeit als die Kinder, bis wir uns irgendwo so richtig wohl fühlen können. Oft erliegen wir Vorstellungen oder Idealen aus der Fülle von Informationsquellen, die bei der Ankunft an einem neuen Ort zuerst abgebaut werden müssen. Die Kinder fühlen sich im schmutzigen Hinterhof genauso wohl wie im Luxushotel, da sie aus einer unverdorbenen Wahrnehmung die Welt akzeptieren und verarbeiten. Solange kein Hunger und keine Müdigkeit aufkommen und die Eltern als Zentrum der Welt nicht fehlen, wird in allen Situationen Vertrautheit geschaffen: Enya mit der unermüdlichen Nachahmung der Sprachen, Simea mit ihren "Sächeli", die sie immer im Rucksack mit sich herumträgt, Lia mit ihren Fragen und Geschichten.
So kommen wir überall an den neuen Orten mit einem kindlichen Blick nach vertrauten Referenzen an. Wenn die wenigen Orientierungspunkte vorhanden sind, werden auch die unmöglichsten Orte wie Bushaltestellen und Warteschlangen zu Kinderinseln von naiver Verspieltheit im Hier und Jetzt. Aus dieser Sicht werden die Kinder zum ruhenden Pol eines Geistes der bei sich zu Hause bleibt, unabhängig von der Aussenwelt.
Kinder laden ein, die Dinge so hinzunehmen wie sie eben heute gerade sind. Aus diesem Jetzt wird dann der Kinderbrei gekocht mit Spiel, Musik und Malen, wie er spontan ohne Rezept entstehen kann. Das Treibenlassen wird zum Programm, bei dem wir als Eltern die Richtung angeben. Schaffen wir es die Animation auf eine Minimum zu reduzieren, entfaltet sich eine Kunst des Gehenlassens, die wir immer wieder üben. Die beruhigende Vertrautheit der Kindergewohnheiten wird so zum Leitfaden unserer Wahrnehmung von neuen, oft gewöhnungsbedürftigen Welten, Menschen und Orten.
Als idealer Fixpunkt des "Zuhause-Fühlens" hat sich hier eine Kaffeebar und Aufbackbrot-Bäckerei entpuppt: Jeden morgen trinke ich mit den Kindern auf einer ungemütlichen Veranda den besten Kaffee weit und breit und wir schauen den Affen auf der gegenüberliegenden Strassenseite zu, wie sie an den Stromkabeln herumturnen und an Glückstagen auf verwertbare Köstlichkeiten der Vorbeigehenden warten.

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