Dienstag, 19. Oktober 2010

Bim Coifför

Der erstmalige Besuch beim Coiffeur ist für Lia und Simea ein aussergewöhnliches Ereignis. Was bisher bei "Umala" ein mehr oder weniger regelmässiges Ritual war, findet nun in einem thailändischen Coiffeur-Salon statt . Mir bleibt Zeit, um den Stolz und die Konzentration der Kinder zu beobachten. Das auf den ersten Blick so alltägliche Bedürfnis wird standesgemäss begleitet von Spiegeln, die dem "Patienten" auf dem Coiffeurgestühl nicht gleich auffallen, wie dem teilnehmenden Beobachter nebenan. Erinnerungen an Mani Matter's Klassiker vermischen sich mit dem surrenden Ton des Ventilators und dem Schnippseln der Schere. Es ist nicht nur ein Spiegel, sondern zwei, drei, 10, 20 und mehr und mehr und mehr bis das Zählen aufhört und das metaphysische Gruseln beginnt. Der abgründige Blick in die Unendlichkeit gilt als die universale Coiffeur-Erfahrung, die auch in Thailand nicht weniger faszinierend ist, als sonst irgendwo. Während sich die Haarpracht von Lia langsam lichtet und der Haarteppich ringsum den Stuhl dichter wird, verspiegelt es mir den Kopf, bis ich selbst zum Spiegel werde. Was absurd klingt kann zu einer echten Zen-Erfahrung mit der Wirklichkeit werden: "Ein Spiegel spiegelt sich in allen Spiegeln, alle Spiegel spiegeln sich ein einem Spiegel. Dieses Spiegeln ist die Wirklichkeit der wirklichen Welt." (Der Ochs und sein Hirte, altchinesische Zen-Geschichte)
Statt den Ort des metaphysischen Gruselns fluchtartig zu verlassen, wozu sich das "Coiffeur-Opfer" in Mani Matter's Lied schliesslich entscheidet, versuche ich den Schrecken der Unendlichkeit dieser Spiegel in das Alltagsstaunen der Zen-Philospohie zu integrieren. Dies bedeutet für den westlich verdorbenen Geist keine Leichtigkeit, sondern harte Arbeit.   Der Anblick der Spiegel füllt meine Gedanken eher, als dass er diese entleeren würde. Die Spiegel beginnen zu verschwimmen, werden so unscharf, dass ich es vorziehe, die neuen Frisuren meiner Töchter zu bestaunen. Mani Matter's Weltgefühl steht mir immer noch näher als der Zen-Blick ins ungewisse Nichts. Die zwei Blondinen betrachten sich im Spiegel. Sie sehen zum Glück nur den einen, der ihre neue Frisur in voller Pracht zum narzisstischen Spiel freigibt. Eben jenes Spiel, von dem ich mich durch die Vielfalt der Spiegel zu lösen versucht habe. Simea kümmert's wenig, dass ich mich wieder einmal intellektuell versteige. Mit erhobenem Kinn verlässt sie den Coiffeur-Laden und schaut glücklich mit selbstsicherem Blick auf die staubige  Strasse hinaus. Eine neue Frisur, frisiert wie bei den "Grossen", das lanciert den Tag neu.
Ich erwache aus meinen Gedankenspielereien durch die Wucht der feuchten Hitze beim Verlassen des Salons. Der nächste Coiffeur-Besuch kommt bestimmt, die Spiegel verschwinden nicht und es bleibt noch einige Zeit zur Übung, das metaphysische Gruseln mit dem gelassenen Blick in die Unendlichkeit einzutauschen.