Mittwoch, 27. Oktober 2010

Mitgefühl

Es gibt Dinge, die alle Reisenden fürchten oder mindestens grossen Respekt davor haben. Dazu gehören auch die kuriosen und zum Teil gefährlichen Insekten, Würmer oder Skorpione, die sich oft unsichtbar als still lauernde Gefahren in Sand, Wasser und der Luft verbergen. In allen Reisebüchern sind sie ausführlich beschrieben und ebenso oft werden sie von Tropenärzten und einheimischen Medizinmännern erwähnt. Einer dieser berühmten kleinen Plaggeister ist der Hakenwurm, der sich oft in der Regenzeit an abgelegenen Stränden im Sand versteckt und sich durch kleine Verletzungen durch die Fusssohle in die Haut einnistet. Von dort aus zieht er dann weiter und weiter, bildet Larven und kann so bis in Lunge oder Leber gelangen.
Reiseberichte, Krankheitsgeschichten und Internetangaben tönen nicht nur beim Hackenwurm oft sehr dramatisch. Oft lösen nur schon die Beschreibungen Übelkeit und Schmerzen aus. Ist man dann selbst von einem solchen kleinen Ungeheuer angegriffen, scheint dann irgendwie alles etwas weniger panisch, obwohl meistens ein baldiges Reagieren angebracht ist.
Seit einer Woche wohnt in Lia's linkem Fuss vermutlich ein solcher Hackenwurm, der sie zusehends, vor allem in der Nacht durch einen starken Juckreiz stört. Weder Ekel, Angst oder Jammern hat dieses Tierchen bei ihr ausgelöst. Heute morgen kurz nach dem Erwachen und einer Nacht, in der sie wegen diesem Mitbewohner zweimal erwacht ist, fragt sie uns: "Tut es dem Wurm weh, wenn ich jetzt auf den Fuss stehe? Hat er nicht Angst im Fuss drin?" Wir staunen nur noch ab diesem beeindruckenden Mitgefühl, das sie einem solchen Störefried entgegenbringt und erklären kurz, dass sie sich um den Wurm keine Sorgen machen müsse und dass es ihm immer noch sehr gut gehe. Lia hat sich voll ihrem neuen Mitbewohner angenommen, sodass es auch noch einige Erklärungen braucht, wieso sie jetzt dann trotzdem eine Tablette schlucken muss, dass dieser kleine Wicht wieder rauskommt und sich verzieht.
Eher gleichgültig, denn erleichtert akzeptiert sie die Tablette, während ich über die Grenzen des Mitgefühls gegenüber Kleingetier nachdenke. Tropenkrankheiten als Übung zu mehr Mitgefühl und Gelassenheit oder eher die Sorglosikeit der Kinder als Vorbild für einen gesunden Optimismus? Wie auch immer: Eine Tablette scheint so oder so alle ein wenig zu beruhigen.